Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite


dieses Rogier van der Weyde, als eines mit hoher
Kunst reich begabten alten Meisters aus der letzten
Hälfte des funfzehnten und der ersten des sechzehn-
ten Jahrhunderts, der viele bedeutsame Gemälde
von reicher Erfindung und bewundernswerthem Aus-
druck in Öl malte. Vier große historische Tafeln
von seiner Hand schmückten den Gerichtssaal des
alten prächtigen Rathhauses zu Brüssel, welche alle
die strengste Ausübung unbeugsamer Rechtspflege
bildlich darstellten. Auf einer derselben sah man
einem Vater und seinem Sohne, jedem ein Auge
ausreißen, weil einer von ihnen wegen eines Ver-
brechens beide Augen zu verlieren verurtheilt war,
und dies furchtbare Urtheil nur dadurch gemildert
werden konnte, daß die Gerechtigkeit sich bewegen
ließ, beide durch innige Liebe Verbundene wie
Eine Person anzusehen. Auf einem andern dieser
Gemälde mordet ein sterbend auf dem Krankenbette
hingestreckter Vater mit eigner Hand den verbreche-
rischen Sohn, zur Sühne des Gesetzes. Wie
himmlisch klar und rein erscheint dagegen Johann
van Eyck, dessen ewig heitre Phantasie solche Greuel-


dieſes Rogier van der Weyde, als eines mit hoher
Kunſt reich begabten alten Meiſters aus der letzten
Hälfte des funfzehnten und der erſten des ſechzehn-
ten Jahrhunderts, der viele bedeutſame Gemälde
von reicher Erfindung und bewundernswerthem Aus-
druck in Öl malte. Vier große hiſtoriſche Tafeln
von ſeiner Hand ſchmückten den Gerichtsſaal des
alten prächtigen Rathhauſes zu Brüſſel, welche alle
die ſtrengſte Ausübung unbeugſamer Rechtspflege
bildlich darſtellten. Auf einer derſelben ſah man
einem Vater und ſeinem Sohne, jedem ein Auge
ausreißen, weil einer von ihnen wegen eines Ver-
brechens beide Augen zu verlieren verurtheilt war,
und dies furchtbare Urtheil nur dadurch gemildert
werden konnte, daß die Gerechtigkeit ſich bewegen
ließ, beide durch innige Liebe Verbundene wie
Eine Perſon anzuſehen. Auf einem andern dieſer
Gemälde mordet ein ſterbend auf dem Krankenbette
hingeſtreckter Vater mit eigner Hand den verbreche-
riſchen Sohn, zur Sühne des Geſetzes. Wie
himmliſch klar und rein erſcheint dagegen Johann
van Eyck, deſſen ewig heitre Phantaſie ſolche Greuel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0119" n="107"/><lb/>
die&#x017F;es Rogier van der Weyde, als eines mit hoher<lb/>
Kun&#x017F;t reich begabten alten Mei&#x017F;ters aus der letzten<lb/>
Hälfte des funfzehnten und der er&#x017F;ten des &#x017F;echzehn-<lb/>
ten Jahrhunderts, der viele bedeut&#x017F;ame Gemälde<lb/>
von reicher Erfindung und bewundernswerthem Aus-<lb/>
druck in Öl malte. Vier große hi&#x017F;tori&#x017F;che Tafeln<lb/>
von &#x017F;einer Hand &#x017F;chmückten den Gerichts&#x017F;aal des<lb/>
alten prächtigen Rathhau&#x017F;es zu Brü&#x017F;&#x017F;el, welche alle<lb/>
die &#x017F;treng&#x017F;te Ausübung unbeug&#x017F;amer Rechtspflege<lb/>
bildlich dar&#x017F;tellten. Auf einer der&#x017F;elben &#x017F;ah man<lb/>
einem Vater und &#x017F;einem Sohne, jedem ein Auge<lb/>
ausreißen, weil einer von ihnen wegen eines Ver-<lb/>
brechens beide Augen zu verlieren verurtheilt war,<lb/>
und dies furchtbare Urtheil nur dadurch gemildert<lb/>
werden konnte, daß die Gerechtigkeit &#x017F;ich bewegen<lb/>
ließ, beide durch innige Liebe Verbundene wie<lb/>
Eine Per&#x017F;on anzu&#x017F;ehen. Auf einem andern die&#x017F;er<lb/>
Gemälde mordet ein &#x017F;terbend auf dem Krankenbette<lb/>
hinge&#x017F;treckter Vater mit eigner Hand den verbreche-<lb/>
ri&#x017F;chen Sohn, zur Sühne des Ge&#x017F;etzes. Wie<lb/>
himmli&#x017F;ch klar und rein er&#x017F;cheint dagegen Johann<lb/>
van Eyck, de&#x017F;&#x017F;en ewig heitre Phanta&#x017F;ie &#x017F;olche Greuel-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0119] dieſes Rogier van der Weyde, als eines mit hoher Kunſt reich begabten alten Meiſters aus der letzten Hälfte des funfzehnten und der erſten des ſechzehn- ten Jahrhunderts, der viele bedeutſame Gemälde von reicher Erfindung und bewundernswerthem Aus- druck in Öl malte. Vier große hiſtoriſche Tafeln von ſeiner Hand ſchmückten den Gerichtsſaal des alten prächtigen Rathhauſes zu Brüſſel, welche alle die ſtrengſte Ausübung unbeugſamer Rechtspflege bildlich darſtellten. Auf einer derſelben ſah man einem Vater und ſeinem Sohne, jedem ein Auge ausreißen, weil einer von ihnen wegen eines Ver- brechens beide Augen zu verlieren verurtheilt war, und dies furchtbare Urtheil nur dadurch gemildert werden konnte, daß die Gerechtigkeit ſich bewegen ließ, beide durch innige Liebe Verbundene wie Eine Perſon anzuſehen. Auf einem andern dieſer Gemälde mordet ein ſterbend auf dem Krankenbette hingeſtreckter Vater mit eigner Hand den verbreche- riſchen Sohn, zur Sühne des Geſetzes. Wie himmliſch klar und rein erſcheint dagegen Johann van Eyck, deſſen ewig heitre Phantaſie ſolche Greuel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/119
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/119>, abgerufen am 19.04.2024.