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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.

Als auf ein anderes Beispiel sei auf die kombinirten Töne und Har-
monieen noch hingewiesen.

Diese Vereinigung, "In-eins-setzung" von Zwei- oder Mehrerlei,
diese Herstellung einer "Vieleinigkeit", welche sich im Bewusstsein des
denkenden Sukjektes vollzieht, ist das, was ich als das Unbegreifliche
des Vorgangs bezeichne.*) Der Versuch, die Herstellung zweier Bilder
an verschiedene Stellen des Hirns zu verlegen -- wenn man doch dem
letztern insbesondere, und der materiellen Welt überhaupt, Wirklich-
keit zuschreiben will -- lässt deren Wechselwirkung aufeinander, lässt
die Einheitlichkeit des Bewusstseins, der Versuch, sie an dieselbe
Stelle (oder dieselben Stellen) zu verlegen, lässt ihre Unterscheidbarkeit
wol unbegreiflich erscheinen.

p) Einerlei, wie die Wissenschaft in vorgeschritteneren Stadien sich
das Wesen dieses Vorgangs auch zurechtlegen wird, so haben wir uns
hier mit der Thatsache abzufinden, dass in dem einheitlichen Bewusst-
sein des Ich's gar Mannigfaltiges verknüpft, zusammengefasst oder
vereinigt erscheint, dass wir unmittelbar inne werden einer Mannig-
faltigkeit
(wie gesagt) von Empfindungen und Vorstellungen, Gemüts-
zuständen und Willensstrebungen, welche teilweise als sich forterhaltend
oder neu immer wieder erzeugend, teilweise als im Wechsel oder Fluss,
in Änderung befindlich sich uns offenbart (zuweilen sich zu eigner
Thätigkeitsäusserung steigernd), und in welcher sich namentlich auch
die Gedanken entwickeln.

Dieser mannigfaltige Inhalt des Bewusstseins mit seinen auf-
einanderfolgenden (genauer: sich an einander reihenden) Zuständen,
seinen successiven Phasen, füllt das Leben des Individuums oder
denkenden Subjektes aus. Er ist eine Welt für sich, ein (Mikro-) Kos-

*) Wer an paradoxen Aussprüchen Freude hat, könnte sich, sofern er
obigen Ausführungen folgte -- m. a. W. im Hinblick auf das hervorgehobene
Mysterium der Zweizahl, Mehrzahl, der Vieleinigkeit im Bewusstsein, oder wie
man dasselbe nennen mag -- wol versucht fühlen, dem Hegel'schen Ausspruch:
"Sein ist Nichtsein; dieser Widerspruch löst sich auf im Werden" -- welchen ich
in dieser Fassung Herrn Kuno Fischer's Logik entnehme -- einen andern an die
Seite zu setzen: "Zwei sind eins; dieser Widerspruch löst sich auf (verwirklicht
sich) im Innewerden (Bewusstwerden)." Sonst allerdings sind zweie nirgends eines.
Wenn -- im Ernste gesprochen -- ein denkendes Subjekt A im Geist zwei
Dinge b und c zugleich erschaut, so erzeugt sich in diesem Geiste eines (ein
"Ding"): die Anschauung von "b nebst c", aus welcher nicht nur diejenige von b,
oder die von c, jeden Augenblick losgelöst und isolirt zu werden vermag, sondern
in welcher sogar, obzwar sie "eins geworden", diese beiden Anschauungen auch
stets gesondert, als zweie, empfunden sind.
Einleitung.

Als auf ein anderes Beispiel sei auf die kombinirten Töne und Har-
monieen noch hingewiesen.

Diese Vereinigung, „In-eins-setzung“ von Zwei- oder Mehrerlei,
diese Herstellung einer „Vieleinigkeit“, welche sich im Bewusstsein des
denkenden Sukjektes vollzieht, ist das, was ich als das Unbegreifliche
des Vorgangs bezeichne.*) Der Versuch, die Herstellung zweier Bilder
an verschiedene Stellen des Hirns zu verlegen — wenn man doch dem
letztern insbesondere, und der materiellen Welt überhaupt, Wirklich-
keit zuschreiben will — lässt deren Wechselwirkung aufeinander, lässt
die Einheitlichkeit des Bewusstseins, der Versuch, sie an dieselbe
Stelle (oder dieselben Stellen) zu verlegen, lässt ihre Unterscheidbarkeit
wol unbegreiflich erscheinen.

π) Einerlei, wie die Wissenschaft in vorgeschritteneren Stadien sich
das Wesen dieses Vorgangs auch zurechtlegen wird, so haben wir uns
hier mit der Thatsache abzufinden, dass in dem einheitlichen Bewusst-
sein des Ich's gar Mannigfaltiges verknüpft, zusammengefasst oder
vereinigt erscheint, dass wir unmittelbar inne werden einer Mannig-
faltigkeit
(wie gesagt) von Empfindungen und Vorstellungen, Gemüts-
zuständen und Willensstrebungen, welche teilweise als sich forterhaltend
oder neu immer wieder erzeugend, teilweise als im Wechsel oder Fluss,
in Änderung befindlich sich uns offenbart (zuweilen sich zu eigner
Thätigkeitsäusserung steigernd), und in welcher sich namentlich auch
die Gedanken entwickeln.

Dieser mannigfaltige Inhalt des Bewusstseins mit seinen auf-
einanderfolgenden (genauer: sich an einander reihenden) Zuständen,
seinen successiven Phasen, füllt das Leben des Individuums oder
denkenden Subjektes aus. Er ist eine Welt für sich, ein (Mikro-) Kos-

*) Wer an paradoxen Aussprüchen Freude hat, könnte sich, sofern er
obigen Ausführungen folgte — m. a. W. im Hinblick auf das hervorgehobene
Mysterium der Zweizahl, Mehrzahl, der Vieleinigkeit im Bewusstsein, oder wie
man dasselbe nennen mag — wol versucht fühlen, dem Hegel'schen Ausspruch:
„Sein ist Nichtsein; dieser Widerspruch löst sich auf im Werden“ — welchen ich
in dieser Fassung Herrn Kuno Fischer's Logik entnehme — einen andern an die
Seite zu setzen: „Zwei sind eins; dieser Widerspruch löst sich auf (verwirklicht
sich) im Innewerden (Bewusstwerden).“ Sonst allerdings sind zweie nirgends eines.
Wenn — im Ernste gesprochen — ein denkendes Subjekt A im Geist zwei
Dinge b und c zugleich erschaut, so erzeugt sich in diesem Geiste eines (ein
„Ding“): die Anschauung von „b nebst c“, aus welcher nicht nur diejenige von b,
oder die von c, jeden Augenblick losgelöst und isolirt zu werden vermag, sondern
in welcher sogar, obzwar sie „eins geworden“, diese beiden Anschauungen auch
stets gesondert, als zweie, empfunden sind.
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[21/0041] Einleitung. Als auf ein anderes Beispiel sei auf die kombinirten Töne und Har- monieen noch hingewiesen. Diese Vereinigung, „In-eins-setzung“ von Zwei- oder Mehrerlei, diese Herstellung einer „Vieleinigkeit“, welche sich im Bewusstsein des denkenden Sukjektes vollzieht, ist das, was ich als das Unbegreifliche des Vorgangs bezeichne. *) Der Versuch, die Herstellung zweier Bilder an verschiedene Stellen des Hirns zu verlegen — wenn man doch dem letztern insbesondere, und der materiellen Welt überhaupt, Wirklich- keit zuschreiben will — lässt deren Wechselwirkung aufeinander, lässt die Einheitlichkeit des Bewusstseins, der Versuch, sie an dieselbe Stelle (oder dieselben Stellen) zu verlegen, lässt ihre Unterscheidbarkeit wol unbegreiflich erscheinen. π) Einerlei, wie die Wissenschaft in vorgeschritteneren Stadien sich das Wesen dieses Vorgangs auch zurechtlegen wird, so haben wir uns hier mit der Thatsache abzufinden, dass in dem einheitlichen Bewusst- sein des Ich's gar Mannigfaltiges verknüpft, zusammengefasst oder vereinigt erscheint, dass wir unmittelbar inne werden einer Mannig- faltigkeit (wie gesagt) von Empfindungen und Vorstellungen, Gemüts- zuständen und Willensstrebungen, welche teilweise als sich forterhaltend oder neu immer wieder erzeugend, teilweise als im Wechsel oder Fluss, in Änderung befindlich sich uns offenbart (zuweilen sich zu eigner Thätigkeitsäusserung steigernd), und in welcher sich namentlich auch die Gedanken entwickeln. Dieser mannigfaltige Inhalt des Bewusstseins mit seinen auf- einanderfolgenden (genauer: sich an einander reihenden) Zuständen, seinen successiven Phasen, füllt das Leben des Individuums oder denkenden Subjektes aus. Er ist eine Welt für sich, ein (Mikro-) Kos- *) Wer an paradoxen Aussprüchen Freude hat, könnte sich, sofern er obigen Ausführungen folgte — m. a. W. im Hinblick auf das hervorgehobene Mysterium der Zweizahl, Mehrzahl, der Vieleinigkeit im Bewusstsein, oder wie man dasselbe nennen mag — wol versucht fühlen, dem Hegel'schen Ausspruch: „Sein ist Nichtsein; dieser Widerspruch löst sich auf im Werden“ — welchen ich in dieser Fassung Herrn Kuno Fischer's Logik entnehme — einen andern an die Seite zu setzen: „Zwei sind eins; dieser Widerspruch löst sich auf (verwirklicht sich) im Innewerden (Bewusstwerden).“ Sonst allerdings sind zweie nirgends eines. Wenn — im Ernste gesprochen — ein denkendes Subjekt A im Geist zwei Dinge b und c zugleich erschaut, so erzeugt sich in diesem Geiste eines (ein „Ding“): die Anschauung von „b nebst c“, aus welcher nicht nur diejenige von b, oder die von c, jeden Augenblick losgelöst und isolirt zu werden vermag, sondern in welcher sogar, obzwar sie „eins geworden“, diese beiden Anschauungen auch stets gesondert, als zweie, empfunden sind.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/41>, abgerufen am 28.03.2024.