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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891.

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Sechzehnte Vorlesung.
gegründetem Lustspiele "Nur einen Tag die Wahrheit", z. B., in anmutiger
Weise veranschaulicht worden.

Im gesellschaftlichen sowol als im dienstlichen Verkehr unter den
Menschen ist bekanntlich die Freiheit, eine Wahrheit auszusprechen oder
zu wiederholen, ausserordentlich und in ernstester Weise eingeschränkt durch
die Pflicht der Rücksichtnahme auf die möglichen oder voraussichtlichen
Wirkungen ihrer Äusserung, namentlich aber durch die Forderungen des
Anstandes, des Taktes und der Diskretion.

Vor geistig Unmündigen, vor ganzen und halben Kindern, Frauen
dürfen grosse Klassen von Wahrheiten überhaupt nicht ausgesprochen
werden. Das Gebiet, unter anderm, braucht hier nicht näher bezeichnet zu
werden, auf welchem auch die Kundgebung von Wahrheit mittelst Ab-
bildung, wie sie z. B. als Photographie mit äusserster Genauigkeit und Treue,
Wahrhaftigkeit, sich herstellen lässt, mit gesetzlichen Strafen aus gutem
Grunde verpönt ist. In der Bethätigung von Takt in seinen Äusserungen
wird ein Mensch nicht nur den etwa auszusprechenden oder anzudeutenden
Wahrheiten eine schonende Form zu geben suchen, in welcher sie die Ge-
fühle Derjenigen, an die sie gerichtet sind, nicht unnötig verletzen, die
Lebensinteressen der Nebenmenschen nicht ohne Not preisgeben oder schä-
digen, sondern er wird auch in vielen Fällen den Impuls zum Aussprechen
oder Wiederholen einer Wahrheit gänzlich hemmen. Den Anforderungen
des Taktes gesellen sich noch die ästhetischen des guten Geschmackes. Als
Geschäfts- und Dienstgeheimniss aber, auch als persönliche Angelegenheit
von privatem Charakter, als ein durch konfidenzielle Mitteilung erworbenes
Wissen oder "im Vertrauen" Erfahrenes, ist manche Wahrheit sogar vor der
Veröffentlichung oder Preisgebung an Unbefugte sorgfältig zu hüten. Ihre
konsequente Verschweigung und sorgfältige Verheimlichung mag erscheinen
als Forderung der Freundespflicht, der Ehre und des Diensteides; auf
ihrer Preisgebung kann z. B. stehen die höchste Strafe des Vaterlands-
verrates. --

Da wir hier nicht eine Ethik zu schreiben vorhaben, so mag es bei
diesen Andeutungen sein Bewenden haben, die sicherlich für den Verständigen
genügen, der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Argumentation indess
auch wol keinen Eintrag thun.

Auch auf das Prinzip II als solches des Aussagenkalkuls haben
wir uns wiederholt schon vorgreifend berufen. Dasselbe, nämlich
InIn. (A B) (B C) (A C)
stellt sich als der erste (und wichtigste) "hypothetische" Syllogismus
dar, und spricht die Berechtigung aus, aus den als simultan gültig
vorausgesetzten Prämissen, als da sind der
Untersatz: Wenn A gilt, so gilt B,
und der Obersatz: Wenn B gilt, so gilt C,

die Konklusion zu ziehen: ergo Wenn A gilt, so gilt C.

Mit andern Worten: Wenn B von A und C von B bedingt wird,

Sechzehnte Vorlesung.
gegründetem Lustspiele „Nur einen Tag die Wahrheit“, z. B., in anmutiger
Weise veranschaulicht worden.

Im gesellschaftlichen sowol als im dienstlichen Verkehr unter den
Menschen ist bekanntlich die Freiheit, eine Wahrheit auszusprechen oder
zu wiederholen, ausserordentlich und in ernstester Weise eingeschränkt durch
die Pflicht der Rücksichtnahme auf die möglichen oder voraussichtlichen
Wirkungen ihrer Äusserung, namentlich aber durch die Forderungen des
Anstandes, des Taktes und der Diskretion.

Vor geistig Unmündigen, vor ganzen und halben Kindern, Frauen
dürfen grosse Klassen von Wahrheiten überhaupt nicht ausgesprochen
werden. Das Gebiet, unter anderm, braucht hier nicht näher bezeichnet zu
werden, auf welchem auch die Kundgebung von Wahrheit mittelst Ab-
bildung, wie sie z. B. als Photographie mit äusserster Genauigkeit und Treue,
Wahrhaftigkeit, sich herstellen lässt, mit gesetzlichen Strafen aus gutem
Grunde verpönt ist. In der Bethätigung von Takt in seinen Äusserungen
wird ein Mensch nicht nur den etwa auszusprechenden oder anzudeutenden
Wahrheiten eine schonende Form zu geben suchen, in welcher sie die Ge-
fühle Derjenigen, an die sie gerichtet sind, nicht unnötig verletzen, die
Lebensinteressen der Nebenmenschen nicht ohne Not preisgeben oder schä-
digen, sondern er wird auch in vielen Fällen den Impuls zum Aussprechen
oder Wiederholen einer Wahrheit gänzlich hemmen. Den Anforderungen
des Taktes gesellen sich noch die ästhetischen des guten Geschmackes. Als
Geschäfts- und Dienstgeheimniss aber, auch als persönliche Angelegenheit
von privatem Charakter, als ein durch konfidenzielle Mitteilung erworbenes
Wissen oder „im Vertrauen“ Erfahrenes, ist manche Wahrheit sogar vor der
Veröffentlichung oder Preisgebung an Unbefugte sorgfältig zu hüten. Ihre
konsequente Verschweigung und sorgfältige Verheimlichung mag erscheinen
als Forderung der Freundespflicht, der Ehre und des Diensteides; auf
ihrer Preisgebung kann z. B. stehen die höchste Strafe des Vaterlands-
verrates. —

Da wir hier nicht eine Ethik zu schreiben vorhaben, so mag es bei
diesen Andeutungen sein Bewenden haben, die sicherlich für den Verständigen
genügen, der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Argumentation indess
auch wol keinen Eintrag thun.

Auch auf das Prinzip II als solches des Aussagenkalkuls haben
wir uns wiederholt schon vorgreifend berufen. Dasselbe, nämlich
ĪĪ. (A B) (B C) (A C)
stellt sich als der erste (und wichtigste) „hypothetische“ Syllogismus
dar, und spricht die Berechtigung aus, aus den als simultan gültig
vorausgesetzten Prämissen, als da sind der
Untersatz: Wenn A gilt, so gilt B,
und der Obersatz: Wenn B gilt, so gilt C,

die Konklusion zu ziehen: ergo Wenn A gilt, so gilt C.

Mit andern Worten: Wenn B von A und C von B bedingt wird,

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[50/0074] Sechzehnte Vorlesung. gegründetem Lustspiele „Nur einen Tag die Wahrheit“, z. B., in anmutiger Weise veranschaulicht worden. Im gesellschaftlichen sowol als im dienstlichen Verkehr unter den Menschen ist bekanntlich die Freiheit, eine Wahrheit auszusprechen oder zu wiederholen, ausserordentlich und in ernstester Weise eingeschränkt durch die Pflicht der Rücksichtnahme auf die möglichen oder voraussichtlichen Wirkungen ihrer Äusserung, namentlich aber durch die Forderungen des Anstandes, des Taktes und der Diskretion. Vor geistig Unmündigen, vor ganzen und halben Kindern, Frauen dürfen grosse Klassen von Wahrheiten überhaupt nicht ausgesprochen werden. Das Gebiet, unter anderm, braucht hier nicht näher bezeichnet zu werden, auf welchem auch die Kundgebung von Wahrheit mittelst Ab- bildung, wie sie z. B. als Photographie mit äusserster Genauigkeit und Treue, Wahrhaftigkeit, sich herstellen lässt, mit gesetzlichen Strafen aus gutem Grunde verpönt ist. In der Bethätigung von Takt in seinen Äusserungen wird ein Mensch nicht nur den etwa auszusprechenden oder anzudeutenden Wahrheiten eine schonende Form zu geben suchen, in welcher sie die Ge- fühle Derjenigen, an die sie gerichtet sind, nicht unnötig verletzen, die Lebensinteressen der Nebenmenschen nicht ohne Not preisgeben oder schä- digen, sondern er wird auch in vielen Fällen den Impuls zum Aussprechen oder Wiederholen einer Wahrheit gänzlich hemmen. Den Anforderungen des Taktes gesellen sich noch die ästhetischen des guten Geschmackes. Als Geschäfts- und Dienstgeheimniss aber, auch als persönliche Angelegenheit von privatem Charakter, als ein durch konfidenzielle Mitteilung erworbenes Wissen oder „im Vertrauen“ Erfahrenes, ist manche Wahrheit sogar vor der Veröffentlichung oder Preisgebung an Unbefugte sorgfältig zu hüten. Ihre konsequente Verschweigung und sorgfältige Verheimlichung mag erscheinen als Forderung der Freundespflicht, der Ehre und des Diensteides; auf ihrer Preisgebung kann z. B. stehen die höchste Strafe des Vaterlands- verrates. — Da wir hier nicht eine Ethik zu schreiben vorhaben, so mag es bei diesen Andeutungen sein Bewenden haben, die sicherlich für den Verständigen genügen, der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Argumentation indess auch wol keinen Eintrag thun. Auch auf das Prinzip II als solches des Aussagenkalkuls haben wir uns wiederholt schon vorgreifend berufen. Dasselbe, nämlich ĪĪ. (A  B) (B  C)  (A  C) stellt sich als der erste (und wichtigste) „hypothetische“ Syllogismus dar, und spricht die Berechtigung aus, aus den als simultan gültig vorausgesetzten Prämissen, als da sind der Untersatz: Wenn A gilt, so gilt B, und der Obersatz: Wenn B gilt, so gilt C, die Konklusion zu ziehen: ergo Wenn A gilt, so gilt C. Mit andern Worten: Wenn B von A und C von B bedingt wird,

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/74>, abgerufen am 29.03.2024.