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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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einen Vorzug geben wollen, dürfen wir uns doch nicht
läugnen: daß jene Abbreviaturen- und Hieroglyphen-
sprache, der Natur des Geistes in vieler Hinsicht ange-
messener erscheine, als unsre gewöhnliche Wortsproche.
Jene ist unendlich viel ausdrucksvoller, umfassender,
der Ausgedehntheit in die Zeit viel minder unterwor-
fen als diese. Die letztere müssen wir erst erlernen,
dagegen ist uns jene angeboren, und die Seele ver-
sucht diese ihr eigenthümliche Sprache zu reden, so-
bald sie im Schlafe oder Delirio aus der gewöhnli-
chen Verkettung etwas los und frey geworden, obgleich
es ihr damit ohngefähr nur eben so gelingt, als es
einem guten Fußgänger gelungen, wenn er als Fötus
im Mutterleibe die künftigen Bewegungen versuchte.
Denn, beyläufig: wir würden es, falls wir es auch
vermöchten, jene disjecta membra eines ursprüngli-
chen und künftigen Lebens, schon jetzt an Licht und Luft
hervorzuziehen, doch vor der Hand in der Geister-
sprache kaum zum Lallen bringen, oder höchstens zu
einem Grade von Bauchrednerey.

Jene Sprache hat übrigens, außerdem daß sie
über die Kräfte unserer inneren Natur eben so viel
vermag, als die orpheische Liedersprache über die der
äußeren, noch eine andre, sehr bedeutende Eigenschaft
vor der gewöhnlichen Sprache voraus. Die Reihe
unsrer Lebensbegegnisse scheint sich nämlich ohngefähr
nach einer ähnlichen Ideenassociation des Schicksals
zusammen zu fügen, als die Bilder im Traume; mit
andern Worten: das Schicksal in und außer uns,
oder wie wir das bedeutende Ding sonst nennen wol-
len, redet dieselbe Sprache, wie unsre Seele im Trau-

me.

einen Vorzug geben wollen, duͤrfen wir uns doch nicht
laͤugnen: daß jene Abbreviaturen- und Hieroglyphen-
ſprache, der Natur des Geiſtes in vieler Hinſicht ange-
meſſener erſcheine, als unſre gewoͤhnliche Wortſproche.
Jene iſt unendlich viel ausdrucksvoller, umfaſſender,
der Ausgedehntheit in die Zeit viel minder unterwor-
fen als dieſe. Die letztere muͤſſen wir erſt erlernen,
dagegen iſt uns jene angeboren, und die Seele ver-
ſucht dieſe ihr eigenthuͤmliche Sprache zu reden, ſo-
bald ſie im Schlafe oder Delirio aus der gewoͤhnli-
chen Verkettung etwas los und frey geworden, obgleich
es ihr damit ohngefaͤhr nur eben ſo gelingt, als es
einem guten Fußgaͤnger gelungen, wenn er als Foͤtus
im Mutterleibe die kuͤnftigen Bewegungen verſuchte.
Denn, beylaͤufig: wir wuͤrden es, falls wir es auch
vermoͤchten, jene disjecta membra eines urſpruͤngli-
chen und kuͤnftigen Lebens, ſchon jetzt an Licht und Luft
hervorzuziehen, doch vor der Hand in der Geiſter-
ſprache kaum zum Lallen bringen, oder hoͤchſtens zu
einem Grade von Bauchrednerey.

Jene Sprache hat uͤbrigens, außerdem daß ſie
uͤber die Kraͤfte unſerer inneren Natur eben ſo viel
vermag, als die orpheiſche Liederſprache uͤber die der
aͤußeren, noch eine andre, ſehr bedeutende Eigenſchaft
vor der gewoͤhnlichen Sprache voraus. Die Reihe
unſrer Lebensbegegniſſe ſcheint ſich naͤmlich ohngefaͤhr
nach einer aͤhnlichen Ideenaſſociation des Schickſals
zuſammen zu fuͤgen, als die Bilder im Traume; mit
andern Worten: das Schickſal in und außer uns,
oder wie wir das bedeutende Ding ſonſt nennen wol-
len, redet dieſelbe Sprache, wie unſre Seele im Trau-

me.
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[2/0012] einen Vorzug geben wollen, duͤrfen wir uns doch nicht laͤugnen: daß jene Abbreviaturen- und Hieroglyphen- ſprache, der Natur des Geiſtes in vieler Hinſicht ange- meſſener erſcheine, als unſre gewoͤhnliche Wortſproche. Jene iſt unendlich viel ausdrucksvoller, umfaſſender, der Ausgedehntheit in die Zeit viel minder unterwor- fen als dieſe. Die letztere muͤſſen wir erſt erlernen, dagegen iſt uns jene angeboren, und die Seele ver- ſucht dieſe ihr eigenthuͤmliche Sprache zu reden, ſo- bald ſie im Schlafe oder Delirio aus der gewoͤhnli- chen Verkettung etwas los und frey geworden, obgleich es ihr damit ohngefaͤhr nur eben ſo gelingt, als es einem guten Fußgaͤnger gelungen, wenn er als Foͤtus im Mutterleibe die kuͤnftigen Bewegungen verſuchte. Denn, beylaͤufig: wir wuͤrden es, falls wir es auch vermoͤchten, jene disjecta membra eines urſpruͤngli- chen und kuͤnftigen Lebens, ſchon jetzt an Licht und Luft hervorzuziehen, doch vor der Hand in der Geiſter- ſprache kaum zum Lallen bringen, oder hoͤchſtens zu einem Grade von Bauchrednerey. Jene Sprache hat uͤbrigens, außerdem daß ſie uͤber die Kraͤfte unſerer inneren Natur eben ſo viel vermag, als die orpheiſche Liederſprache uͤber die der aͤußeren, noch eine andre, ſehr bedeutende Eigenſchaft vor der gewoͤhnlichen Sprache voraus. Die Reihe unſrer Lebensbegegniſſe ſcheint ſich naͤmlich ohngefaͤhr nach einer aͤhnlichen Ideenaſſociation des Schickſals zuſammen zu fuͤgen, als die Bilder im Traume; mit andern Worten: das Schickſal in und außer uns, oder wie wir das bedeutende Ding ſonſt nennen wol- len, redet dieſelbe Sprache, wie unſre Seele im Trau- me.

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/12>, abgerufen am 25.04.2024.