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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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welche das arme Mädchen erhielt, kam in einem Briefe an, der das Postzeichen Amsterdam trug. Es war die Hand ihres Bruders, die diesen Brief geschrieben hatte. Alles Blut strömte zu ihrem Herzen zurück, als er ihr übergeben wurde. Sie wollte einen Freudenschrei ausstoßen -- der Athem fehlte ihr. Ihre Knie zitterten, sie mußte den Brief eine Viertelstunde lang in den Händen halten, an die Brust drücken, mit ihm im Zimmer auf- und ablaufen -- endlich wurde es klar vor ihren Augen; -- sie las -- sie las Freude, Jubel und -- Schrecken aus dem Briefe! Und doch war sein Inhalt von Anfang bis zu Ende nur eine Freudenbotschaft. Joseph war glücklich nach Batavia gekommen. In der Hauptstadt hatten sich freilich bald seine Hoffnungen auf indische Reichthümer bedeutend herabgestimmt, nach einigen Monaten waren sie sogar vollständig zu Wasser geworden. Im Begriff, sich um die Stelle eines Correspondenten in einem Handlungshause zu bewerben, hatten ihn seine Empfehlungsbriefe in das Haus eines Handelsherrn geführt, der damit beschäftigt war, seine Reichthümer aus den Unternehmungen, die sie ihm erworben, zurückzuziehen, um nach Europa heimzukehren und in Amsterdam das Leben eines Nabobs zu führen. Mynheer und Myjuffrow hatten eine Tochter -- ein schönes, gutes, natürlich sehr verwöhntes Mädchen; Joseph hatte ihr den Hof gemacht, er hatte um sie geworben und in der That ihre Hand erhalten -- er, der arme Glücksjäger! Hatte

welche das arme Mädchen erhielt, kam in einem Briefe an, der das Postzeichen Amsterdam trug. Es war die Hand ihres Bruders, die diesen Brief geschrieben hatte. Alles Blut strömte zu ihrem Herzen zurück, als er ihr übergeben wurde. Sie wollte einen Freudenschrei ausstoßen — der Athem fehlte ihr. Ihre Knie zitterten, sie mußte den Brief eine Viertelstunde lang in den Händen halten, an die Brust drücken, mit ihm im Zimmer auf- und ablaufen — endlich wurde es klar vor ihren Augen; — sie las — sie las Freude, Jubel und — Schrecken aus dem Briefe! Und doch war sein Inhalt von Anfang bis zu Ende nur eine Freudenbotschaft. Joseph war glücklich nach Batavia gekommen. In der Hauptstadt hatten sich freilich bald seine Hoffnungen auf indische Reichthümer bedeutend herabgestimmt, nach einigen Monaten waren sie sogar vollständig zu Wasser geworden. Im Begriff, sich um die Stelle eines Correspondenten in einem Handlungshause zu bewerben, hatten ihn seine Empfehlungsbriefe in das Haus eines Handelsherrn geführt, der damit beschäftigt war, seine Reichthümer aus den Unternehmungen, die sie ihm erworben, zurückzuziehen, um nach Europa heimzukehren und in Amsterdam das Leben eines Nabobs zu führen. Mynheer und Myjuffrow hatten eine Tochter — ein schönes, gutes, natürlich sehr verwöhntes Mädchen; Joseph hatte ihr den Hof gemacht, er hatte um sie geworben und in der That ihre Hand erhalten — er, der arme Glücksjäger! Hatte

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/34>, abgerufen am 23.04.2024.