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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch
die Drachenbilder hervor. "Das letzte Zeichen, rief Kreusa,
muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven seyn, die
vom erstgepflanzten Oelbaume Minervens stammen, und
den ich meinem neugebornen Knaben aufgesetzt." Jon
durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte
einen schönen grünen Olivenkranz hervor. "Mutter,
Mutter!" rief er mit einer von schluchzenden Thränen
unterbrochenen Stimme, fiel Kreusen um den Hals und
bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß er sich
von ihrem Halse los, und verlangte nach seinem Vater
Xuthus. Da entdeckte ihm Kreusa das Geheimniß seiner
Geburt und wie er des Gottes Sohn sey, dem er so
lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die
früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Kreusens
wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifel¬
ten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes
Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur
als Stiefsohn, doch auch so als ein theures Götterge¬
schenk in seine Arme und alle drei erschienen wieder im
Tempel, dem Gotte zu danken. Die Priesterin aber weis¬
sagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬
nes großen Stammes werden sollte, Jonier nach seinem
Namen genannt; auch dem Xuthus weissagte sie Nach¬
kommenschaft von Kreusen, einen Sohn, der Dorus
heißen sollte, und der weltberühmten Dorier Vater
werden. Mit so freudigen Erfüllungen und Hoffnungen
brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬
fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬
ner Delphi's gaben ihm das Geleite.


Schwab, das klass. Alterthum. I. 6

Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch
die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Krëuſa,
muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die
vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und
den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon
durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte
einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter,
Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen
unterbrochenen Stimme, fiel Krëuſen um den Hals und
bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich
von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater
Xuthus. Da entdeckte ihm Krëuſa das Geheimniß ſeiner
Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo
lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die
früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens
wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬
ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes
Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur
als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬
ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im
Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬
ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬
nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem
Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬
kommenſchaft von Krëuſen, einen Sohn, der Dorus
heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater
werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen
brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬
fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬
ner Delphi's gaben ihm das Geleite.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 6
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[81/0107] Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Krëuſa, muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter, Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëuſen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater Xuthus. Da entdeckte ihm Krëuſa das Geheimniß ſeiner Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬ ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬ ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬ ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬ nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬ kommenſchaft von Krëuſen, einen Sohn, der Dorus heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬ fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬ ner Delphi's gaben ihm das Geleite. Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 6

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/107>, abgerufen am 29.04.2024.