Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

ihm, und bitte ihn, nach dieser Stelle zu kommen;
für so kleine Gunst verspreche ich ihm großen Lohn." --
"Welche Wohlthat könnte unsrem König ein blinder Mann
reichen?" sagte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬
leidigen Blick auf den Fremdling. "Doch," setzte er hinzu,
"wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hättest ein edles,
hohes Aussehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum
will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern
und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe so lange
hier sitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe.
Jene mögen dann entscheiden, ob du hier bleiben kannst,
oder gleich wieder weiter wandern sollst."

Als sich Oedipus mit seiner Tochter wieder allein
sah, erhub er sich von seinem Sitze, warf sich zu Bo¬
den und ergoß sein Herz in einem brünstigen Gebete zu
den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels
und der Mutter Erde, die eine so liebliche Wohnung in
diesem Haine aufgeschlagen. "Ihr Grauenvollen und doch
Gnädigen," sprach er, "zeiget mir jetzt nach dem Aus¬
spruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn
anders ich in meinem mühseligen Leben nicht immer noch
zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des
Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über
das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch steht,
denn er selbst ist es nicht mehr!"

Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein
blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Aussehen sich
in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen
sonst nicht vergönnt ist, hatte bald die Aeltesten des Dor¬
fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren,
um ihn versammelt. Noch größerer Schrecken ergriff sie,

ihm, und bitte ihn, nach dieſer Stelle zu kommen;
für ſo kleine Gunſt verſpreche ich ihm großen Lohn.“ —
„Welche Wohlthat könnte unſrem König ein blinder Mann
reichen?“ ſagte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬
leidigen Blick auf den Fremdling. „Doch,“ ſetzte er hinzu,
„wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hätteſt ein edles,
hohes Ausſehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum
will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern
und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe ſo lange
hier ſitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe.
Jene mögen dann entſcheiden, ob du hier bleiben kannſt,
oder gleich wieder weiter wandern ſollſt.“

Als ſich Oedipus mit ſeiner Tochter wieder allein
ſah, erhub er ſich von ſeinem Sitze, warf ſich zu Bo¬
den und ergoß ſein Herz in einem brünſtigen Gebete zu
den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels
und der Mutter Erde, die eine ſo liebliche Wohnung in
dieſem Haine aufgeſchlagen. „Ihr Grauenvollen und doch
Gnädigen,“ ſprach er, „zeiget mir jetzt nach dem Aus¬
ſpruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn
anders ich in meinem mühſeligen Leben nicht immer noch
zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des
Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über
das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch ſteht,
denn er ſelbſt iſt es nicht mehr!“

Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein
blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Ausſehen ſich
in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen
ſonſt nicht vergönnt iſt, hatte bald die Aelteſten des Dor¬
fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren,
um ihn verſammelt. Noch größerer Schrecken ergriff ſie,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0356" n="330"/>
ihm, und bitte ihn, nach die&#x017F;er Stelle zu kommen;<lb/>
für &#x017F;o kleine Gun&#x017F;t ver&#x017F;preche ich ihm großen Lohn.&#x201C; &#x2014;<lb/>
&#x201E;Welche Wohlthat könnte un&#x017F;rem König ein blinder Mann<lb/>
reichen?&#x201C; &#x017F;agte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬<lb/>
leidigen Blick auf den Fremdling. &#x201E;Doch,&#x201C; &#x017F;etzte er hinzu,<lb/>
&#x201E;wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hätte&#x017F;t ein edles,<lb/>
hohes Aus&#x017F;ehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum<lb/>
will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern<lb/>
und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe &#x017F;o lange<lb/>
hier &#x017F;itzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe.<lb/>
Jene mögen dann ent&#x017F;cheiden, ob du hier bleiben kann&#x017F;t,<lb/>
oder gleich wieder weiter wandern &#x017F;oll&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Als &#x017F;ich Oedipus mit &#x017F;einer Tochter wieder allein<lb/>
&#x017F;ah, erhub er &#x017F;ich von &#x017F;einem Sitze, warf &#x017F;ich zu Bo¬<lb/>
den und ergoß &#x017F;ein Herz in einem brün&#x017F;tigen Gebete zu<lb/>
den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels<lb/>
und der Mutter Erde, die eine &#x017F;o liebliche Wohnung in<lb/>
die&#x017F;em Haine aufge&#x017F;chlagen. &#x201E;Ihr Grauenvollen und doch<lb/>
Gnädigen,&#x201C; &#x017F;prach er, &#x201E;zeiget mir jetzt nach dem Aus¬<lb/>
&#x017F;pruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn<lb/>
anders ich in meinem müh&#x017F;eligen Leben nicht immer noch<lb/>
zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des<lb/>
Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über<lb/>
das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch &#x017F;teht,<lb/>
denn er &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t es nicht mehr!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein<lb/>
blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Aus&#x017F;ehen &#x017F;ich<lb/>
in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t nicht vergönnt i&#x017F;t, hatte bald die Aelte&#x017F;ten des Dor¬<lb/>
fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren,<lb/>
um ihn ver&#x017F;ammelt. Noch größerer Schrecken ergriff &#x017F;ie,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[330/0356] ihm, und bitte ihn, nach dieſer Stelle zu kommen; für ſo kleine Gunſt verſpreche ich ihm großen Lohn.“ — „Welche Wohlthat könnte unſrem König ein blinder Mann reichen?“ ſagte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬ leidigen Blick auf den Fremdling. „Doch,“ ſetzte er hinzu, „wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hätteſt ein edles, hohes Ausſehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe ſo lange hier ſitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe. Jene mögen dann entſcheiden, ob du hier bleiben kannſt, oder gleich wieder weiter wandern ſollſt.“ Als ſich Oedipus mit ſeiner Tochter wieder allein ſah, erhub er ſich von ſeinem Sitze, warf ſich zu Bo¬ den und ergoß ſein Herz in einem brünſtigen Gebete zu den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels und der Mutter Erde, die eine ſo liebliche Wohnung in dieſem Haine aufgeſchlagen. „Ihr Grauenvollen und doch Gnädigen,“ ſprach er, „zeiget mir jetzt nach dem Aus¬ ſpruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn anders ich in meinem mühſeligen Leben nicht immer noch zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch ſteht, denn er ſelbſt iſt es nicht mehr!“ Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Ausſehen ſich in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen ſonſt nicht vergönnt iſt, hatte bald die Aelteſten des Dor¬ fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren, um ihn verſammelt. Noch größerer Schrecken ergriff ſie,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/356
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/356>, abgerufen am 07.05.2024.