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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Schlucht umgaben. Nun warfen sich alle am grünenden
Ufer des weithin sich schlängelnden Baches nieder, und
genoßen mit tiefen Zügen die langentbehrte Lust. Bald
fand man auch für Wagen und Rosse Pfade, die durch
den Wald bequem in die Tiefe hinabführten und die
Wagenlenker fuhren, ohne die Rosse auszuspannen, mitten
in die wallende Fluth hinein, da wo der Bach sich zu
ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Rosse, die ihren
Leib in den Wellen kühlten, unausgeschirrt den langen
Durst stillen.

Alles war erquickt und die gute Führerin Hypsi¬
pyle, die Thaten und Leiden der Weiber von Lemnos
erzählend, führte den Adrastus und seine Helden, denen
jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die
breitere Straße zurück, dahin, wo sie dieselbe mit ihrem
Pflegekind unter dem gewölbten Baume hatten sitzen
sehen. Aber ehe sie jener Stelle noch ansichtig wurden,
erschreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein
klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum ver¬
nahmen, sie selbst aber sogleich als die Stimme ihres
kleinen Opheltes erkannte. Hypsipyle war selbst die Mut¬
ter großer und kleiner Kinder, die sie, von den Räubern
entführt, in Lemnos hatte zurücklassen müssen. Nun hatte
sie ihre ganze Mutterliebe auf diesen Säugling überge¬
tragen, dem sie als Sclavin beigegeben war. Eine bange
Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den
Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo sie
mit dem Kind an der Brust zu ruhen pflegte. Aber ach,
der Kleine war verschwunden und ihre irrenden Augen
fanden keine Spur von ihm und vernahmen auch die
Stimme nicht mehr. Als sie ihre Blicke in weiterem

Schlucht umgaben. Nun warfen ſich alle am grünenden
Ufer des weithin ſich ſchlängelnden Baches nieder, und
genoßen mit tiefen Zügen die langentbehrte Luſt. Bald
fand man auch für Wagen und Roſſe Pfade, die durch
den Wald bequem in die Tiefe hinabführten und die
Wagenlenker fuhren, ohne die Roſſe auszuſpannen, mitten
in die wallende Fluth hinein, da wo der Bach ſich zu
ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Roſſe, die ihren
Leib in den Wellen kühlten, unausgeſchirrt den langen
Durſt ſtillen.

Alles war erquickt und die gute Führerin Hypſi¬
pyle, die Thaten und Leiden der Weiber von Lemnos
erzählend, führte den Adraſtus und ſeine Helden, denen
jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die
breitere Straße zurück, dahin, wo ſie dieſelbe mit ihrem
Pflegekind unter dem gewölbten Baume hatten ſitzen
ſehen. Aber ehe ſie jener Stelle noch anſichtig wurden,
erſchreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein
klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum ver¬
nahmen, ſie ſelbſt aber ſogleich als die Stimme ihres
kleinen Opheltes erkannte. Hypſipyle war ſelbſt die Mut¬
ter großer und kleiner Kinder, die ſie, von den Räubern
entführt, in Lemnos hatte zurücklaſſen müſſen. Nun hatte
ſie ihre ganze Mutterliebe auf dieſen Säugling überge¬
tragen, dem ſie als Sclavin beigegeben war. Eine bange
Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den
Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo ſie
mit dem Kind an der Bruſt zu ruhen pflegte. Aber ach,
der Kleine war verſchwunden und ihre irrenden Augen
fanden keine Spur von ihm und vernahmen auch die
Stimme nicht mehr. Als ſie ihre Blicke in weiterem

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[350/0376] Schlucht umgaben. Nun warfen ſich alle am grünenden Ufer des weithin ſich ſchlängelnden Baches nieder, und genoßen mit tiefen Zügen die langentbehrte Luſt. Bald fand man auch für Wagen und Roſſe Pfade, die durch den Wald bequem in die Tiefe hinabführten und die Wagenlenker fuhren, ohne die Roſſe auszuſpannen, mitten in die wallende Fluth hinein, da wo der Bach ſich zu ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Roſſe, die ihren Leib in den Wellen kühlten, unausgeſchirrt den langen Durſt ſtillen. Alles war erquickt und die gute Führerin Hypſi¬ pyle, die Thaten und Leiden der Weiber von Lemnos erzählend, führte den Adraſtus und ſeine Helden, denen jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die breitere Straße zurück, dahin, wo ſie dieſelbe mit ihrem Pflegekind unter dem gewölbten Baume hatten ſitzen ſehen. Aber ehe ſie jener Stelle noch anſichtig wurden, erſchreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum ver¬ nahmen, ſie ſelbſt aber ſogleich als die Stimme ihres kleinen Opheltes erkannte. Hypſipyle war ſelbſt die Mut¬ ter großer und kleiner Kinder, die ſie, von den Räubern entführt, in Lemnos hatte zurücklaſſen müſſen. Nun hatte ſie ihre ganze Mutterliebe auf dieſen Säugling überge¬ tragen, dem ſie als Sclavin beigegeben war. Eine bange Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo ſie mit dem Kind an der Bruſt zu ruhen pflegte. Aber ach, der Kleine war verſchwunden und ihre irrenden Augen fanden keine Spur von ihm und vernahmen auch die Stimme nicht mehr. Als ſie ihre Blicke in weiterem

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/376>, abgerufen am 29.04.2024.