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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Weib genommen, in Deinem Lande wohne ich; laß deinen
Bürger im Gefechte siegen, laß ihn seine Rechte färben
mit des Gegners Blute!" Auf der andern Seite kehrte sich
Eteokles zum Tempel der Minerva in Thebe: "Gib, o
Tochter Jupiters," flehte er, "daß ich die Lanze sieg¬
reich zum Ziele schleudere, in die Brust dessen, der mein
Vaterland zu verwüsten kam!" Mit seinem letzten Worte
schmetterte der Trompetenklang, das Zeichen des blutigen
Kampfes, und die Brüder stürzten wilden Laufes auf
einander ein und packten sich wie zwei Eber, die die
Hauer grimmig auf einander gewetzt haben. Die Lanzen
sausten an einander vorüber, und prallten beide von den
Schilden ab; nun zielten sie mit den Speeren sich ge¬
genseitig nach dem Gesichte, nach den Augen, aber die
schnell vorgehaltenen Schildränder vereitelten auch diesen
Stoß. Den Zuschauern selbst floß der Schweiß in dich¬
ten Tropfen vom Leibe, bei'm Anblicke des erbitterten
Kampfes. Endlich vergaß sich Eteokles, und während er
beim Ausfallen mit dem rechten Fuße einen Stein, der
ihm am Wege lag, bei Seite stoßen wollte, streckte er
das Bein unvorsichtig unter dem Schilde hervor: da
stürzte Polynices mit dem Speere heran, und durchbohrte
ihm das Schienbein. Das ganze Argiverheer jubelte bei
seinem Stoße, sah darin schon den entscheidenden Sieg.
Aber während des Stoßes hatte der Verwundete, der seine
Besinnung keinen Augenblick verlor, die eine Schulter an
seinem Gegner entblöst gesehen, und warf seinen Wurf¬
spieß nach derselben, der auch in der Schulter haftete,
doch so, daß die Spitze ihm abbrach. Die Thebaner lie¬
ßen nur einen halben Laut der Freude von sich hören.
Eteokles wich zurück, ergriff einen Marmelstein und zer¬

Weib genommen, in Deinem Lande wohne ich; laß deinen
Bürger im Gefechte ſiegen, laß ihn ſeine Rechte färben
mit des Gegners Blute!“ Auf der andern Seite kehrte ſich
Eteokles zum Tempel der Minerva in Thebe: „Gib, o
Tochter Jupiters,“ flehte er, „daß ich die Lanze ſieg¬
reich zum Ziele ſchleudere, in die Bruſt deſſen, der mein
Vaterland zu verwüſten kam!“ Mit ſeinem letzten Worte
ſchmetterte der Trompetenklang, das Zeichen des blutigen
Kampfes, und die Brüder ſtürzten wilden Laufes auf
einander ein und packten ſich wie zwei Eber, die die
Hauer grimmig auf einander gewetzt haben. Die Lanzen
ſausten an einander vorüber, und prallten beide von den
Schilden ab; nun zielten ſie mit den Speeren ſich ge¬
genſeitig nach dem Geſichte, nach den Augen, aber die
ſchnell vorgehaltenen Schildränder vereitelten auch dieſen
Stoß. Den Zuſchauern ſelbſt floß der Schweiß in dich¬
ten Tropfen vom Leibe, bei'm Anblicke des erbitterten
Kampfes. Endlich vergaß ſich Eteokles, und während er
beim Ausfallen mit dem rechten Fuße einen Stein, der
ihm am Wege lag, bei Seite ſtoßen wollte, ſtreckte er
das Bein unvorſichtig unter dem Schilde hervor: da
ſtürzte Polynices mit dem Speere heran, und durchbohrte
ihm das Schienbein. Das ganze Argiverheer jubelte bei
ſeinem Stoße, ſah darin ſchon den entſcheidenden Sieg.
Aber während des Stoßes hatte der Verwundete, der ſeine
Beſinnung keinen Augenblick verlor, die eine Schulter an
ſeinem Gegner entblöſt geſehen, und warf ſeinen Wurf¬
ſpieß nach derſelben, der auch in der Schulter haftete,
doch ſo, daß die Spitze ihm abbrach. Die Thebaner lie¬
ßen nur einen halben Laut der Freude von ſich hören.
Eteokles wich zurück, ergriff einen Marmelſtein und zer¬

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[365/0391] Weib genommen, in Deinem Lande wohne ich; laß deinen Bürger im Gefechte ſiegen, laß ihn ſeine Rechte färben mit des Gegners Blute!“ Auf der andern Seite kehrte ſich Eteokles zum Tempel der Minerva in Thebe: „Gib, o Tochter Jupiters,“ flehte er, „daß ich die Lanze ſieg¬ reich zum Ziele ſchleudere, in die Bruſt deſſen, der mein Vaterland zu verwüſten kam!“ Mit ſeinem letzten Worte ſchmetterte der Trompetenklang, das Zeichen des blutigen Kampfes, und die Brüder ſtürzten wilden Laufes auf einander ein und packten ſich wie zwei Eber, die die Hauer grimmig auf einander gewetzt haben. Die Lanzen ſausten an einander vorüber, und prallten beide von den Schilden ab; nun zielten ſie mit den Speeren ſich ge¬ genſeitig nach dem Geſichte, nach den Augen, aber die ſchnell vorgehaltenen Schildränder vereitelten auch dieſen Stoß. Den Zuſchauern ſelbſt floß der Schweiß in dich¬ ten Tropfen vom Leibe, bei'm Anblicke des erbitterten Kampfes. Endlich vergaß ſich Eteokles, und während er beim Ausfallen mit dem rechten Fuße einen Stein, der ihm am Wege lag, bei Seite ſtoßen wollte, ſtreckte er das Bein unvorſichtig unter dem Schilde hervor: da ſtürzte Polynices mit dem Speere heran, und durchbohrte ihm das Schienbein. Das ganze Argiverheer jubelte bei ſeinem Stoße, ſah darin ſchon den entſcheidenden Sieg. Aber während des Stoßes hatte der Verwundete, der ſeine Beſinnung keinen Augenblick verlor, die eine Schulter an ſeinem Gegner entblöſt geſehen, und warf ſeinen Wurf¬ ſpieß nach derſelben, der auch in der Schulter haftete, doch ſo, daß die Spitze ihm abbrach. Die Thebaner lie¬ ßen nur einen halben Laut der Freude von ſich hören. Eteokles wich zurück, ergriff einen Marmelſtein und zer¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/391>, abgerufen am 27.04.2024.