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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfin¬
den ließe, daß sie sich einem Andern vermählt hatte, denn
ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer
Zeit verfiel Kreusa auf den Gedanken, sich an das Orakel
zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu er¬
flehen. Dieß war es, was Apollo gewollt, denn er hatte
seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Für¬
stin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von
Dienerinnen auf, und wallfahrtete zu dem Tempel nach
Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat ge¬
rade der junge Sohn Apollo's über die Schwelle, um
gewohnter Weise die Pfosten der Thore mit Lorbeerzwei¬
gen zu schmücken. Da fiel sein Auge auf die edle Ma¬
trone, welche auf die Thore des Tempels zugewandelt
kam, und der beim Anblicke des Heiligthums Thränen
über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren
würdige Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache
ihres Kummers zu befragen. "Es wundert mich nicht,
o Jüngling," erwiederte sie seufzend, "daß meine Traurig¬
keit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch Geschicke
zu beweinen, dir man mir wohl ansehen mag. Die Göt¬
ter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!" -- "Ich
will deinen Kummer nicht weiter stören," sprach der Jüng¬
ling, "aber sage mir, wenn es zu wissen erlaubt ist, wer
du bist und von wannen du kömmst." -- "Ich bin Kreusa,
antwortete die Fürstin, mein Vater heißt Erechtheus, mein
Vaterland ist Athen." Mit unschuldiger Freude rief der
Jüngling: "Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch
berühmtem Geschlechte stammst du! Aber sage mir, ist es
wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines
Vaters Großvater Erichthonius aus der Erde, wie ein

heimlich angetraute Gott die Geliebte ſeinen Zorn empfin¬
den ließe, daß ſie ſich einem Andern vermählt hatte, denn
ihre Ehe war nicht mit Kindern geſegnet. Nach langer
Zeit verfiel Krëuſa auf den Gedanken, ſich an das Orakel
zu Delphi zu wenden und von ihm Kinderſegen zu er¬
flehen. Dieß war es, was Apollo gewollt, denn er hatte
ſeines Sohnes keineswegs vergeſſen. So brach die Für¬
ſtin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von
Dienerinnen auf, und wallfahrtete zu dem Tempel nach
Delphi. Als ſie vor dem Gotteshauſe ankamen, trat ge¬
rade der junge Sohn Apollo's über die Schwelle, um
gewohnter Weiſe die Pfoſten der Thore mit Lorbeerzwei¬
gen zu ſchmücken. Da fiel ſein Auge auf die edle Ma¬
trone, welche auf die Thore des Tempels zugewandelt
kam, und der beim Anblicke des Heiligthums Thränen
über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren
würdige Geſtalt ihm auffiel, beſcheiden um die Urſache
ihres Kummers zu befragen. „Es wundert mich nicht,
o Jüngling,“ erwiederte ſie ſeufzend, „daß meine Traurig¬
keit deinen Blick auf ſich zieht; habe ich doch Geſchicke
zu beweinen, dir man mir wohl anſehen mag. Die Göt¬
ter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!“ — „Ich
will deinen Kummer nicht weiter ſtören,“ ſprach der Jüng¬
ling, „aber ſage mir, wenn es zu wiſſen erlaubt iſt, wer
du biſt und von wannen du kömmſt.“ — „Ich bin Krëuſa,
antwortete die Fürſtin, mein Vater heißt Erechtheus, mein
Vaterland iſt Athen.“ Mit unſchuldiger Freude rief der
Jüngling: „Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch
berühmtem Geſchlechte ſtammſt du! Aber ſage mir, iſt es
wahr, wie man es auf Bildern bei uns ſieht, daß deines
Vaters Großvater Erichthonius aus der Erde, wie ein

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[69/0095] heimlich angetraute Gott die Geliebte ſeinen Zorn empfin¬ den ließe, daß ſie ſich einem Andern vermählt hatte, denn ihre Ehe war nicht mit Kindern geſegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëuſa auf den Gedanken, ſich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kinderſegen zu er¬ flehen. Dieß war es, was Apollo gewollt, denn er hatte ſeines Sohnes keineswegs vergeſſen. So brach die Für¬ ſtin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf, und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi. Als ſie vor dem Gotteshauſe ankamen, trat ge¬ rade der junge Sohn Apollo's über die Schwelle, um gewohnter Weiſe die Pfoſten der Thore mit Lorbeerzwei¬ gen zu ſchmücken. Da fiel ſein Auge auf die edle Ma¬ trone, welche auf die Thore des Tempels zugewandelt kam, und der beim Anblicke des Heiligthums Thränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Geſtalt ihm auffiel, beſcheiden um die Urſache ihres Kummers zu befragen. „Es wundert mich nicht, o Jüngling,“ erwiederte ſie ſeufzend, „daß meine Traurig¬ keit deinen Blick auf ſich zieht; habe ich doch Geſchicke zu beweinen, dir man mir wohl anſehen mag. Die Göt¬ ter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!“ — „Ich will deinen Kummer nicht weiter ſtören,“ ſprach der Jüng¬ ling, „aber ſage mir, wenn es zu wiſſen erlaubt iſt, wer du biſt und von wannen du kömmſt.“ — „Ich bin Krëuſa, antwortete die Fürſtin, mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland iſt Athen.“ Mit unſchuldiger Freude rief der Jüngling: „Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geſchlechte ſtammſt du! Aber ſage mir, iſt es wahr, wie man es auf Bildern bei uns ſieht, daß deines Vaters Großvater Erichthonius aus der Erde, wie ein

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/95>, abgerufen am 28.04.2024.