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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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und Achilles stutzte bei dem Anblick. Ihn hatte einst bei einem
früheren nächtlichen Ueberfalle der Pelide im Obsthaine seines
Vaters Priamus überrascht, wo er gerade wilde Feigensprossen
zu einem Sesselrande seines Wagens schnitt. Damals ent¬
führte ihn Achilles mit Gewalt, und sandte ihn zu Schiffe
nach der Insel Lemnos, wo der Sohn des Jason, Euneus,
ihn als Sklaven an sich kaufte. Als nun ein anderer
Sohn des Jason, Eetion, Fürst von Imbrus, seinen
Halbbruder zu Lemnos besuchte, kaufte er den feinen
Jüngling diesem um theures Geld ab, und sandte ihn
nach seiner Stadt Arisbe. Als Lykaon hier einige Zeit
gelebt, schlich er sich heimlich von dannen und rettete sich
nach Troja. Es war der zwölfte Tag, daß er aus der
Gefangenschaft zurückgekehrt war, und jetzt zum zweiten¬
male dem Achilles in die Hände fiel. Wie dieser ihn mit
wankenden Knieen kraftlos aus dem Strome hervortauchen
sah, sprach er staunend zu sich selber: "Wehe mir, welch
Wunder muß ich erblicken! Gewiß werden jetzt auch die
andern Trojaner, die ich erschlagen habe, aufs neue aus
der Nacht hervorkriechen, da dieser wiederkommt, den ich
vor langer Zeit nach Lemnos verkauft habe! Nun, wohlan,
mag er die Spitze unserer Lanzen kosten, und es dann
versuchen, ob er auch aus dem Boden zurückkehren kann!"
Doch ehe Achilles recht mit dem Speere zielen konnte,
hatte sich Lykaon heraufgeschwungen, umschlang ihm mit
der einen Hand die Kniee, und faßte mit der andern seine
Lanze. "Erbarme dich meiner, Achilles," rief er, "war
ich doch einst deinem Schutze anvertraut! Damals trug
ich dir hundert Stiere ein, jetzt will ich mich dreimal so
hoch lösen! Erst seit zwölf Tagen bin ich in der Heimath,
nach langer Qual der Gefangenschaft, aber Jupiter muß

und Achilles ſtutzte bei dem Anblick. Ihn hatte einſt bei einem
früheren nächtlichen Ueberfalle der Pelide im Obſthaine ſeines
Vaters Priamus überraſcht, wo er gerade wilde Feigenſproſſen
zu einem Seſſelrande ſeines Wagens ſchnitt. Damals ent¬
führte ihn Achilles mit Gewalt, und ſandte ihn zu Schiffe
nach der Inſel Lemnos, wo der Sohn des Jaſon, Eunëus,
ihn als Sklaven an ſich kaufte. Als nun ein anderer
Sohn des Jaſon, Eëtion, Fürſt von Imbrus, ſeinen
Halbbruder zu Lemnos beſuchte, kaufte er den feinen
Jüngling dieſem um theures Geld ab, und ſandte ihn
nach ſeiner Stadt Arisbe. Als Lykaon hier einige Zeit
gelebt, ſchlich er ſich heimlich von dannen und rettete ſich
nach Troja. Es war der zwölfte Tag, daß er aus der
Gefangenſchaft zurückgekehrt war, und jetzt zum zweiten¬
male dem Achilles in die Hände fiel. Wie dieſer ihn mit
wankenden Knieen kraftlos aus dem Strome hervortauchen
ſah, ſprach er ſtaunend zu ſich ſelber: „Wehe mir, welch
Wunder muß ich erblicken! Gewiß werden jetzt auch die
andern Trojaner, die ich erſchlagen habe, aufs neue aus
der Nacht hervorkriechen, da dieſer wiederkommt, den ich
vor langer Zeit nach Lemnos verkauft habe! Nun, wohlan,
mag er die Spitze unſerer Lanzen koſten, und es dann
verſuchen, ob er auch aus dem Boden zurückkehren kann!“
Doch ehe Achilles recht mit dem Speere zielen konnte,
hatte ſich Lykaon heraufgeſchwungen, umſchlang ihm mit
der einen Hand die Kniee, und faßte mit der andern ſeine
Lanze. „Erbarme dich meiner, Achilles,“ rief er, „war
ich doch einſt deinem Schutze anvertraut! Damals trug
ich dir hundert Stiere ein, jetzt will ich mich dreimal ſo
hoch löſen! Erſt ſeit zwölf Tagen bin ich in der Heimath,
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[268/0290] und Achilles ſtutzte bei dem Anblick. Ihn hatte einſt bei einem früheren nächtlichen Ueberfalle der Pelide im Obſthaine ſeines Vaters Priamus überraſcht, wo er gerade wilde Feigenſproſſen zu einem Seſſelrande ſeines Wagens ſchnitt. Damals ent¬ führte ihn Achilles mit Gewalt, und ſandte ihn zu Schiffe nach der Inſel Lemnos, wo der Sohn des Jaſon, Eunëus, ihn als Sklaven an ſich kaufte. Als nun ein anderer Sohn des Jaſon, Eëtion, Fürſt von Imbrus, ſeinen Halbbruder zu Lemnos beſuchte, kaufte er den feinen Jüngling dieſem um theures Geld ab, und ſandte ihn nach ſeiner Stadt Arisbe. Als Lykaon hier einige Zeit gelebt, ſchlich er ſich heimlich von dannen und rettete ſich nach Troja. Es war der zwölfte Tag, daß er aus der Gefangenſchaft zurückgekehrt war, und jetzt zum zweiten¬ male dem Achilles in die Hände fiel. Wie dieſer ihn mit wankenden Knieen kraftlos aus dem Strome hervortauchen ſah, ſprach er ſtaunend zu ſich ſelber: „Wehe mir, welch Wunder muß ich erblicken! Gewiß werden jetzt auch die andern Trojaner, die ich erſchlagen habe, aufs neue aus der Nacht hervorkriechen, da dieſer wiederkommt, den ich vor langer Zeit nach Lemnos verkauft habe! Nun, wohlan, mag er die Spitze unſerer Lanzen koſten, und es dann verſuchen, ob er auch aus dem Boden zurückkehren kann!“ Doch ehe Achilles recht mit dem Speere zielen konnte, hatte ſich Lykaon heraufgeſchwungen, umſchlang ihm mit der einen Hand die Kniee, und faßte mit der andern ſeine Lanze. „Erbarme dich meiner, Achilles,“ rief er, „war ich doch einſt deinem Schutze anvertraut! Damals trug ich dir hundert Stiere ein, jetzt will ich mich dreimal ſo hoch löſen! Erſt ſeit zwölf Tagen bin ich in der Heimath, nach langer Qual der Gefangenſchaft, aber Jupiter muß

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/290>, abgerufen am 29.03.2024.