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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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ist kein Erfolg unsrer Unternehmung mehr zu hoffen. Was
mich betrifft, so bekümmert mich jetzt Helena, meine un¬
würdige Gemahlin, weniger, als Euch, mag sie mit dem
weibischen Paris dahinfahren!"

So redete Menelaus; doch that er es nur, um die
Griechen zu verführen, denn im Herzen wünschte er nichts
sehnlicher, als die Vertilgung der Trojaner. Der Sohn
des Tydeus aber, Diomedes, der gerade Lanzenschwinger,
der seine List nicht merkte, fuhr unwillig von seinem Sitz
empor und fing an zu schelten: "Unbegreiflicher! Welche
schmähliche Furcht hat sich deiner Heldenbrust bemächtigt,
daß du so sprechen magst? Doch bin ich ruhig. Nim¬
mermehr folgen dir die muthigen Söhne Griechenlands,
bevor sie Troja's Zinnen zu Boden gestürzt haben! Ent¬
schlösse sich aber ein Einziger, dir zu folgen, so soll dieser
blaue Stahl ihm das Haupt vom Rumpfe trennen!"

Kaum hatte sich Diomedes wieder auf seinen Sitz
niedergelassen, als sich der Seher Kalchas erhob und mit
einem weisen Vorschlage den scheinbaren Zwist vermittelte.
"Ihr wisset Alle noch," sprach er, "wie wir vor mehr
als neun Jahren, als wir zur Eroberung dieser verfluchten
Stadt ausschifften, den herrlichen Helden Philoktetes, den
Freund des Herkules, an einer giftigen und fressenden
Wunde krank, auf der wüsten Insel Lemnos aussetzen und
dort zurücklassen mußten. Zwar war der Geruch der eitern¬
den Wunde und das Jammergeschrei des Unglücklichen
unerträglich. Dennoch war es unrecht und erbarmungslos von
uns gehandelt, den Armen auf diese Weise Preis zu geben.
Nun aber hat mir ein gefangener Seher geoffenbaret, daß nur
mit Hülfe der heiligen und stets treffenden Pfeile, welche
Philoktetes von seinem Freunde Herkules geerbt hat, so

iſt kein Erfolg unſrer Unternehmung mehr zu hoffen. Was
mich betrifft, ſo bekümmert mich jetzt Helena, meine un¬
würdige Gemahlin, weniger, als Euch, mag ſie mit dem
weibiſchen Paris dahinfahren!“

So redete Menelaus; doch that er es nur, um die
Griechen zu verführen, denn im Herzen wünſchte er nichts
ſehnlicher, als die Vertilgung der Trojaner. Der Sohn
des Tydeus aber, Diomedes, der gerade Lanzenſchwinger,
der ſeine Liſt nicht merkte, fuhr unwillig von ſeinem Sitz
empor und fing an zu ſchelten: „Unbegreiflicher! Welche
ſchmähliche Furcht hat ſich deiner Heldenbruſt bemächtigt,
daß du ſo ſprechen magſt? Doch bin ich ruhig. Nim¬
mermehr folgen dir die muthigen Söhne Griechenlands,
bevor ſie Troja's Zinnen zu Boden geſtürzt haben! Ent¬
ſchlöſſe ſich aber ein Einziger, dir zu folgen, ſo ſoll dieſer
blaue Stahl ihm das Haupt vom Rumpfe trennen!“

Kaum hatte ſich Diomedes wieder auf ſeinen Sitz
niedergelaſſen, als ſich der Seher Kalchas erhob und mit
einem weiſen Vorſchlage den ſcheinbaren Zwiſt vermittelte.
„Ihr wiſſet Alle noch,“ ſprach er, „wie wir vor mehr
als neun Jahren, als wir zur Eroberung dieſer verfluchten
Stadt ausſchifften, den herrlichen Helden Philoktetes, den
Freund des Herkules, an einer giftigen und freſſenden
Wunde krank, auf der wüſten Inſel Lemnos ausſetzen und
dort zurücklaſſen mußten. Zwar war der Geruch der eitern¬
den Wunde und das Jammergeſchrei des Unglücklichen
unerträglich. Dennoch war es unrecht und erbarmungslos von
uns gehandelt, den Armen auf dieſe Weiſe Preis zu geben.
Nun aber hat mir ein gefangener Seher geoffenbaret, daß nur
mit Hülfe der heiligen und ſtets treffenden Pfeile, welche
Philoktetes von ſeinem Freunde Herkules geerbt hat, ſo

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[370/0392] iſt kein Erfolg unſrer Unternehmung mehr zu hoffen. Was mich betrifft, ſo bekümmert mich jetzt Helena, meine un¬ würdige Gemahlin, weniger, als Euch, mag ſie mit dem weibiſchen Paris dahinfahren!“ So redete Menelaus; doch that er es nur, um die Griechen zu verführen, denn im Herzen wünſchte er nichts ſehnlicher, als die Vertilgung der Trojaner. Der Sohn des Tydeus aber, Diomedes, der gerade Lanzenſchwinger, der ſeine Liſt nicht merkte, fuhr unwillig von ſeinem Sitz empor und fing an zu ſchelten: „Unbegreiflicher! Welche ſchmähliche Furcht hat ſich deiner Heldenbruſt bemächtigt, daß du ſo ſprechen magſt? Doch bin ich ruhig. Nim¬ mermehr folgen dir die muthigen Söhne Griechenlands, bevor ſie Troja's Zinnen zu Boden geſtürzt haben! Ent¬ ſchlöſſe ſich aber ein Einziger, dir zu folgen, ſo ſoll dieſer blaue Stahl ihm das Haupt vom Rumpfe trennen!“ Kaum hatte ſich Diomedes wieder auf ſeinen Sitz niedergelaſſen, als ſich der Seher Kalchas erhob und mit einem weiſen Vorſchlage den ſcheinbaren Zwiſt vermittelte. „Ihr wiſſet Alle noch,“ ſprach er, „wie wir vor mehr als neun Jahren, als wir zur Eroberung dieſer verfluchten Stadt ausſchifften, den herrlichen Helden Philoktetes, den Freund des Herkules, an einer giftigen und freſſenden Wunde krank, auf der wüſten Inſel Lemnos ausſetzen und dort zurücklaſſen mußten. Zwar war der Geruch der eitern¬ den Wunde und das Jammergeſchrei des Unglücklichen unerträglich. Dennoch war es unrecht und erbarmungslos von uns gehandelt, den Armen auf dieſe Weiſe Preis zu geben. Nun aber hat mir ein gefangener Seher geoffenbaret, daß nur mit Hülfe der heiligen und ſtets treffenden Pfeile, welche Philoktetes von ſeinem Freunde Herkules geerbt hat, ſo

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/392>, abgerufen am 28.03.2024.