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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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er für mich gestorben war, nahm ich doch Nahrung zu
mir, wie vorher; ich ertrug es, das verhaßte Tageslicht
auch ferner noch zu schauen; denn ich dachte daran, daß
wir ja Alle denselben Weg zum Hades wandeln müssen."

Machaon hörte den Greis an, während ihm die Thrä¬
nen noch über die Wangen liefen, und sprach: "Vater,
wie sollte der Gram um den erschlagenen Bruder mein
Herz nicht beugen, der mich, der ältere, als unser Vater
Aesculap zum Olymp entrückt wurde, wie das eigene Kind
auf den Armen trug, mit mir an demselben Tische aß,
sein Lager, seine Habe mit mir theilte, in seiner herrlichen
Kunst mich unterrichtete? Nachdem er mir gestorben, mag
ich das liebliche Tageslicht nicht mehr schauen!"

Doch der Greis ließ nicht ab mit seinem Troste:
"Bedenke doch," sprach er zu dem Bekümmerten, "daß
die Götter es sind, welche uns die Geschicke senden, gute
wie schlimme, und daß über Allen die dunkle Parze wal¬
tet, welche dieselben blind auf die Erde hinabwirft: darum
stürzt oft großes Unheil auf redliche Männer, und Keiner
gehet ganz sicher einher. Das Leben gestaltet sich stets
wechselnd; bald führt es zu großem Jammer, bald wieder
zu Besserem. Dazu gehet ja auch die Sage unter den
Menschen, daß der Gute zum seligen Himmel emporsteige,
und der Frevler in die Schrecken des Dunkels. Dein
Bruder aber war ein menschenfreundlicher Mann, dazu
ein Göttersohn; darum hoffe, daß er zum Geschlechte der
Götter emporgestiegen ist." Mit solchen Trostworten hub
Nestor den lange Widerstrebenden vom Boden auf, und
führte ihn von dem traurigen Grabe hinweg; dieser aber
sah sich noch oft nach dem Grabhügel um.

Unterdessen nahte Eurypylus der Mysier auf dem

er für mich geſtorben war, nahm ich doch Nahrung zu
mir, wie vorher; ich ertrug es, das verhaßte Tageslicht
auch ferner noch zu ſchauen; denn ich dachte daran, daß
wir ja Alle denſelben Weg zum Hades wandeln müſſen.“

Machaon hörte den Greis an, während ihm die Thrä¬
nen noch über die Wangen liefen, und ſprach: „Vater,
wie ſollte der Gram um den erſchlagenen Bruder mein
Herz nicht beugen, der mich, der ältere, als unſer Vater
Aeſculap zum Olymp entrückt wurde, wie das eigene Kind
auf den Armen trug, mit mir an demſelben Tiſche aß,
ſein Lager, ſeine Habe mit mir theilte, in ſeiner herrlichen
Kunſt mich unterrichtete? Nachdem er mir geſtorben, mag
ich das liebliche Tageslicht nicht mehr ſchauen!“

Doch der Greis ließ nicht ab mit ſeinem Troſte:
„Bedenke doch,“ ſprach er zu dem Bekümmerten, „daß
die Götter es ſind, welche uns die Geſchicke ſenden, gute
wie ſchlimme, und daß über Allen die dunkle Parze wal¬
tet, welche dieſelben blind auf die Erde hinabwirft: darum
ſtürzt oft großes Unheil auf redliche Männer, und Keiner
gehet ganz ſicher einher. Das Leben geſtaltet ſich ſtets
wechſelnd; bald führt es zu großem Jammer, bald wieder
zu Beſſerem. Dazu gehet ja auch die Sage unter den
Menſchen, daß der Gute zum ſeligen Himmel emporſteige,
und der Frevler in die Schrecken des Dunkels. Dein
Bruder aber war ein menſchenfreundlicher Mann, dazu
ein Götterſohn; darum hoffe, daß er zum Geſchlechte der
Götter emporgeſtiegen iſt.“ Mit ſolchen Troſtworten hub
Neſtor den lange Widerſtrebenden vom Boden auf, und
führte ihn von dem traurigen Grabe hinweg; dieſer aber
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[374/0396] er für mich geſtorben war, nahm ich doch Nahrung zu mir, wie vorher; ich ertrug es, das verhaßte Tageslicht auch ferner noch zu ſchauen; denn ich dachte daran, daß wir ja Alle denſelben Weg zum Hades wandeln müſſen.“ Machaon hörte den Greis an, während ihm die Thrä¬ nen noch über die Wangen liefen, und ſprach: „Vater, wie ſollte der Gram um den erſchlagenen Bruder mein Herz nicht beugen, der mich, der ältere, als unſer Vater Aeſculap zum Olymp entrückt wurde, wie das eigene Kind auf den Armen trug, mit mir an demſelben Tiſche aß, ſein Lager, ſeine Habe mit mir theilte, in ſeiner herrlichen Kunſt mich unterrichtete? Nachdem er mir geſtorben, mag ich das liebliche Tageslicht nicht mehr ſchauen!“ Doch der Greis ließ nicht ab mit ſeinem Troſte: „Bedenke doch,“ ſprach er zu dem Bekümmerten, „daß die Götter es ſind, welche uns die Geſchicke ſenden, gute wie ſchlimme, und daß über Allen die dunkle Parze wal¬ tet, welche dieſelben blind auf die Erde hinabwirft: darum ſtürzt oft großes Unheil auf redliche Männer, und Keiner gehet ganz ſicher einher. Das Leben geſtaltet ſich ſtets wechſelnd; bald führt es zu großem Jammer, bald wieder zu Beſſerem. Dazu gehet ja auch die Sage unter den Menſchen, daß der Gute zum ſeligen Himmel emporſteige, und der Frevler in die Schrecken des Dunkels. Dein Bruder aber war ein menſchenfreundlicher Mann, dazu ein Götterſohn; darum hoffe, daß er zum Geſchlechte der Götter emporgeſtiegen iſt.“ Mit ſolchen Troſtworten hub Neſtor den lange Widerſtrebenden vom Boden auf, und führte ihn von dem traurigen Grabe hinweg; dieſer aber ſah ſich noch oft nach dem Grabhügel um. Unterdeſſen nahte Eurypylus der Myſier auf dem

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/396>, abgerufen am 23.04.2024.