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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen
waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hülfe aus¬
zuführen gedachte. Dann stürmte er den Pallast, bemäch¬
tigte sich der Schätze des griechischen Fürsten, und entführte
die schöne Helena widerstrebend und doch nicht ganz wider
Willen nach der Insel und seiner Flotte.

Als er mit seiner reizenden Beute auf der See durch
das ägäische Meer schwamm, überfiel die eilenden Fahrzeuge
eine plötzliche Windstille: vor dem Königsschiffe, das den
Räuber mit der Fürstin trug, theilte sich die Woge und
der uralte Meeresgott Nereus hub sein schilfbekränztes
Haupt mit den triefenden Haar- und Bartlocken aus der
Fluth empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln
in das Wasser geheftet schien, das selber einem ehernen
Walle glich, der sich um die Rippen des Fahrzeugs auf¬
geworfen hatte, seine fluchende Wahrsagung zu: "Unglücks¬
vögel flattern deiner Fahrt voran, verfluchter Räuber!
Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verschwo¬
ren, deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamus
zu zerreißen! Wehe mir, wie viel Rosse, wie viel Män¬
ner erblicke ich! Wie viele Leichen verursachst du dem
dardanischen Volke! Schon rüstet Pallas ihren Helm,
ihren Schild und ihre Wuth! Jahre lang dauert der blu¬
tige Kampf, und den Untergang deiner Stadt hält nur der
Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre
voll ist, wird griechischer Feuerbrand die Häuser Troja's
fressen!"

So rief der Greis und tauchte wieder in die Fluth.
Mit Entsetzen hatte Paris zugehört, als aber der Fahr¬
wind wieder lustig blies, vergaß er bald im Arm der

Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen
waren, und verführte ſie durch Ausſicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hülfe aus¬
zuführen gedachte. Dann ſtürmte er den Pallaſt, bemäch¬
tigte ſich der Schätze des griechiſchen Fürſten, und entführte
die ſchöne Helena widerſtrebend und doch nicht ganz wider
Willen nach der Inſel und ſeiner Flotte.

Als er mit ſeiner reizenden Beute auf der See durch
das ägäiſche Meer ſchwamm, überfiel die eilenden Fahrzeuge
eine plötzliche Windſtille: vor dem Königsſchiffe, das den
Räuber mit der Fürſtin trug, theilte ſich die Woge und
der uralte Meeresgott Nereus hub ſein ſchilfbekränztes
Haupt mit den triefenden Haar- und Bartlocken aus der
Fluth empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln
in das Waſſer geheftet ſchien, das ſelber einem ehernen
Walle glich, der ſich um die Rippen des Fahrzeugs auf¬
geworfen hatte, ſeine fluchende Wahrſagung zu: „Unglücks¬
vögel flattern deiner Fahrt voran, verfluchter Räuber!
Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verſchwo¬
ren, deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamus
zu zerreißen! Wehe mir, wie viel Roſſe, wie viel Män¬
ner erblicke ich! Wie viele Leichen verurſachſt du dem
dardaniſchen Volke! Schon rüſtet Pallas ihren Helm,
ihren Schild und ihre Wuth! Jahre lang dauert der blu¬
tige Kampf, und den Untergang deiner Stadt hält nur der
Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre
voll iſt, wird griechiſcher Feuerbrand die Häuſer Troja's
freſſen!“

So rief der Greis und tauchte wieder in die Fluth.
Mit Entſetzen hatte Paris zugehört, als aber der Fahr¬
wind wieder luſtig blies, vergaß er bald im Arm der

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[18/0040] Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte ſie durch Ausſicht auf reiche Beute, in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hülfe aus¬ zuführen gedachte. Dann ſtürmte er den Pallaſt, bemäch¬ tigte ſich der Schätze des griechiſchen Fürſten, und entführte die ſchöne Helena widerſtrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Inſel und ſeiner Flotte. Als er mit ſeiner reizenden Beute auf der See durch das ägäiſche Meer ſchwamm, überfiel die eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windſtille: vor dem Königsſchiffe, das den Räuber mit der Fürſtin trug, theilte ſich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub ſein ſchilfbekränztes Haupt mit den triefenden Haar- und Bartlocken aus der Fluth empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in das Waſſer geheftet ſchien, das ſelber einem ehernen Walle glich, der ſich um die Rippen des Fahrzeugs auf¬ geworfen hatte, ſeine fluchende Wahrſagung zu: „Unglücks¬ vögel flattern deiner Fahrt voran, verfluchter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verſchwo¬ ren, deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamus zu zerreißen! Wehe mir, wie viel Roſſe, wie viel Män¬ ner erblicke ich! Wie viele Leichen verurſachſt du dem dardaniſchen Volke! Schon rüſtet Pallas ihren Helm, ihren Schild und ihre Wuth! Jahre lang dauert der blu¬ tige Kampf, und den Untergang deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll iſt, wird griechiſcher Feuerbrand die Häuſer Troja's freſſen!“ So rief der Greis und tauchte wieder in die Fluth. Mit Entſetzen hatte Paris zugehört, als aber der Fahr¬ wind wieder luſtig blies, vergaß er bald im Arm der

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/40>, abgerufen am 28.03.2024.