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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Hymnen dazu. Als die Maschine über die erhöhten Thor¬
schwellen rollte, stockte viermal ihr Lauf und viermal
dröhnte ihr Bauch wie von Erze. Aber die Trojaner wa¬
ren mit Blindheit geschlagen, und führten das Unge¬
heuer jubelnd auf ihre heilige Burg. Mitten unter der
Raserei der öffentlichen Freude blieb nur das Gemüth und
der Geistesblick der Seherin Kassandra, der gottbegabten
Königstochter des trojanischen Hauses, ungetrübt. Nie
sprach sie ein Wort aus, das nicht erfüllt worden wäre.
Aber sie hatte das Unglück, niemals Glauben zu finden.
So hatte sie auch jetzt unheilvolle Zeichen am Himmel und
in der Natur beobachtet, und stürzte mit flatternden Haa¬
ren, vom Geiste der Weissagung getrieben, aus dem Königs¬
pallaste hervor: ihre Augen starrten in fieberischer Gluth,
ihr Nacken wiegte sich hin und her, wie ein Zweig im
Windhauche, sie holte einen tiefen Seufzer aus der Brust
herauf und rief durch die Gassen der Stadt: "Ihr Elen¬
den, sehet ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hin¬
unterwandeln? daß wir am Rande des Verderbens stehen?
Ich schaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich sehe
es aus dem Bauche des Rosses hervorwallen, das ihr
mit Jauchzen auf unsere Burg hinaufgeführt habt. Doch,
ihr glaubet mir nicht, und wenn ich unzählige Worte spräche.
Ihr seyd den Erinnyen geweiht, die Rache an euch neh¬
men wegen Helena's frevelhafter Ehe."

Wirklich wurde die weissagende Jungfrau nur ver¬
lacht oder geschmäht, und hier und da sprach einer der
Begegnenden zu ihr: "Hat dich denn die jungfräuliche
Schaam ganz verlassen, Kassandra, bist du ganz irre ge¬
worden in deinem Geiste, daß du dich öffentlich auf den
Straßen herumtreiben magst, und nicht siehest, wie die

Hymnen dazu. Als die Maſchine über die erhöhten Thor¬
ſchwellen rollte, ſtockte viermal ihr Lauf und viermal
dröhnte ihr Bauch wie von Erze. Aber die Trojaner wa¬
ren mit Blindheit geſchlagen, und führten das Unge¬
heuer jubelnd auf ihre heilige Burg. Mitten unter der
Raſerei der öffentlichen Freude blieb nur das Gemüth und
der Geiſtesblick der Seherin Kaſſandra, der gottbegabten
Königstochter des trojaniſchen Hauſes, ungetrübt. Nie
ſprach ſie ein Wort aus, das nicht erfüllt worden wäre.
Aber ſie hatte das Unglück, niemals Glauben zu finden.
So hatte ſie auch jetzt unheilvolle Zeichen am Himmel und
in der Natur beobachtet, und ſtürzte mit flatternden Haa¬
ren, vom Geiſte der Weiſſagung getrieben, aus dem Königs¬
pallaſte hervor: ihre Augen ſtarrten in fieberiſcher Gluth,
ihr Nacken wiegte ſich hin und her, wie ein Zweig im
Windhauche, ſie holte einen tiefen Seufzer aus der Bruſt
herauf und rief durch die Gaſſen der Stadt: „Ihr Elen¬
den, ſehet ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hin¬
unterwandeln? daß wir am Rande des Verderbens ſtehen?
Ich ſchaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich ſehe
es aus dem Bauche des Roſſes hervorwallen, das ihr
mit Jauchzen auf unſere Burg hinaufgeführt habt. Doch,
ihr glaubet mir nicht, und wenn ich unzählige Worte ſpräche.
Ihr ſeyd den Erinnyen geweiht, die Rache an euch neh¬
men wegen Helena's frevelhafter Ehe.“

Wirklich wurde die weiſſagende Jungfrau nur ver¬
lacht oder geſchmäht, und hier und da ſprach einer der
Begegnenden zu ihr: „Hat dich denn die jungfräuliche
Schaam ganz verlaſſen, Kaſſandra, biſt du ganz irre ge¬
worden in deinem Geiſte, daß du dich öffentlich auf den
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[416/0438] Hymnen dazu. Als die Maſchine über die erhöhten Thor¬ ſchwellen rollte, ſtockte viermal ihr Lauf und viermal dröhnte ihr Bauch wie von Erze. Aber die Trojaner wa¬ ren mit Blindheit geſchlagen, und führten das Unge¬ heuer jubelnd auf ihre heilige Burg. Mitten unter der Raſerei der öffentlichen Freude blieb nur das Gemüth und der Geiſtesblick der Seherin Kaſſandra, der gottbegabten Königstochter des trojaniſchen Hauſes, ungetrübt. Nie ſprach ſie ein Wort aus, das nicht erfüllt worden wäre. Aber ſie hatte das Unglück, niemals Glauben zu finden. So hatte ſie auch jetzt unheilvolle Zeichen am Himmel und in der Natur beobachtet, und ſtürzte mit flatternden Haa¬ ren, vom Geiſte der Weiſſagung getrieben, aus dem Königs¬ pallaſte hervor: ihre Augen ſtarrten in fieberiſcher Gluth, ihr Nacken wiegte ſich hin und her, wie ein Zweig im Windhauche, ſie holte einen tiefen Seufzer aus der Bruſt herauf und rief durch die Gaſſen der Stadt: „Ihr Elen¬ den, ſehet ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hin¬ unterwandeln? daß wir am Rande des Verderbens ſtehen? Ich ſchaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich ſehe es aus dem Bauche des Roſſes hervorwallen, das ihr mit Jauchzen auf unſere Burg hinaufgeführt habt. Doch, ihr glaubet mir nicht, und wenn ich unzählige Worte ſpräche. Ihr ſeyd den Erinnyen geweiht, die Rache an euch neh¬ men wegen Helena's frevelhafter Ehe.“ Wirklich wurde die weiſſagende Jungfrau nur ver¬ lacht oder geſchmäht, und hier und da ſprach einer der Begegnenden zu ihr: „Hat dich denn die jungfräuliche Schaam ganz verlaſſen, Kaſſandra, biſt du ganz irre ge¬ worden in deinem Geiſte, daß du dich öffentlich auf den Straßen herumtreiben magſt, und nicht ſieheſt, wie die

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/438>, abgerufen am 28.03.2024.