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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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hingen von den Masten herab; die Schiffe selbst waren
bekränzt; Kränze hatten sich die Sieger um Schilde, Lanzen
und Helme geflochten; so standen sie auf den Vorderver¬
decken und gossen Trankopfer goldenen Weines ins Meer,
indem sie voll Inbrunst zu den Göttern um eine Zurück¬
kunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre.
Aber ihr Gebet war nichtig; Lust und Winde trugen es
fort von den Schiffen, und zerstreuten es in die Lüfte,
bevor es sich in den Olymp emporschwingen konnte.

Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnsucht
vorwärts blickten, so schauten die gefangenen trojanischen
Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts
nach dem rauchenden Troja und verstohlener Weise seufz¬
ten und weinten sie den verhaltenen Schmerz aus. Die
Mädchen hatten die Hände in den Schooß gefaltet, die
jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Diese aber
dachten nur an die Mutterbrust und fühlten ihr Unglück
noch nicht. In der Mitte anderer Gefangenen stand Cas¬
sandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die Andern
hervor. Aber ihr Auge war thränenlos und sie spottete
der Klage, die rings um sie her ertönte, denn jetzt war
geschehen, was sie geweissagt hatte, und worüber sie von
den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl
ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich
über dem Unglücke der zerstörten Vaterstadt.

Unter den Trümmern Troja's irrten wenig übrig¬
gebliebene Einwohner, schwache Greise oder verwundete
Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieser führte
sie zu dem schmerzlichen Werke der Leichenbestattung an,
das nur langsam vor sich ging, denn der Todten waren
so viele und der Lebenden nur wenige. Diese Wenigen

hingen von den Maſten herab; die Schiffe ſelbſt waren
bekränzt; Kränze hatten ſich die Sieger um Schilde, Lanzen
und Helme geflochten; ſo ſtanden ſie auf den Vorderver¬
decken und goſſen Trankopfer goldenen Weines ins Meer,
indem ſie voll Inbrunſt zu den Göttern um eine Zurück¬
kunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre.
Aber ihr Gebet war nichtig; Luſt und Winde trugen es
fort von den Schiffen, und zerſtreuten es in die Lüfte,
bevor es ſich in den Olymp emporſchwingen konnte.

Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnſucht
vorwärts blickten, ſo ſchauten die gefangenen trojaniſchen
Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts
nach dem rauchenden Troja und verſtohlener Weiſe ſeufz¬
ten und weinten ſie den verhaltenen Schmerz aus. Die
Mädchen hatten die Hände in den Schooß gefaltet, die
jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Dieſe aber
dachten nur an die Mutterbruſt und fühlten ihr Unglück
noch nicht. In der Mitte anderer Gefangenen ſtand Caſ¬
ſandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die Andern
hervor. Aber ihr Auge war thränenlos und ſie ſpottete
der Klage, die rings um ſie her ertönte, denn jetzt war
geſchehen, was ſie geweiſſagt hatte, und worüber ſie von
den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl
ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich
über dem Unglücke der zerſtörten Vaterſtadt.

Unter den Trümmern Troja's irrten wenig übrig¬
gebliebene Einwohner, ſchwache Greiſe oder verwundete
Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieſer führte
ſie zu dem ſchmerzlichen Werke der Leichenbeſtattung an,
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[432/0454] hingen von den Maſten herab; die Schiffe ſelbſt waren bekränzt; Kränze hatten ſich die Sieger um Schilde, Lanzen und Helme geflochten; ſo ſtanden ſie auf den Vorderver¬ decken und goſſen Trankopfer goldenen Weines ins Meer, indem ſie voll Inbrunſt zu den Göttern um eine Zurück¬ kunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre. Aber ihr Gebet war nichtig; Luſt und Winde trugen es fort von den Schiffen, und zerſtreuten es in die Lüfte, bevor es ſich in den Olymp emporſchwingen konnte. Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnſucht vorwärts blickten, ſo ſchauten die gefangenen trojaniſchen Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts nach dem rauchenden Troja und verſtohlener Weiſe ſeufz¬ ten und weinten ſie den verhaltenen Schmerz aus. Die Mädchen hatten die Hände in den Schooß gefaltet, die jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Dieſe aber dachten nur an die Mutterbruſt und fühlten ihr Unglück noch nicht. In der Mitte anderer Gefangenen ſtand Caſ¬ ſandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die Andern hervor. Aber ihr Auge war thränenlos und ſie ſpottete der Klage, die rings um ſie her ertönte, denn jetzt war geſchehen, was ſie geweiſſagt hatte, und worüber ſie von den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich über dem Unglücke der zerſtörten Vaterſtadt. Unter den Trümmern Troja's irrten wenig übrig¬ gebliebene Einwohner, ſchwache Greiſe oder verwundete Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieſer führte ſie zu dem ſchmerzlichen Werke der Leichenbeſtattung an, das nur langſam vor ſich ging, denn der Todten waren ſo viele und der Lebenden nur wenige. Dieſe Wenigen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/454>, abgerufen am 18.04.2024.