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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe --
sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich
überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, dass sie
thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine
einzige von ihnen hinreichend realisiert wird.

Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung lässt sich
nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Rich-
tungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht un-
mittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung
hat die Differenzierung dahin geführt, dass aus den wenigen
Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe der-
selben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen
scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren
Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften,
sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig
zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, dass
es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit
sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Misch-
laute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war
eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen
zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine
völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Viel-
leicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen
Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der
monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Er-
sparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um
so grössere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile
sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich
mit dem des andern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere,
kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die
Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen
der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie
das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn
die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in die-
jenigen fliessenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheit-
licher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des
Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position
bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit
in dem Masse erleichtert, in dem die Starrheit streng be-
grenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen
verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen,
als so das Band, welches eine grosse Anzahl von Individuen
schematisch zusammengefasst hat, durchgeschnitten wird und
statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des
Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während
jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer
subjektiven Charakter tragen -- alle Synthesis, so drückt
Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, son-

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hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe —
sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich
überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, daſs sie
thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine
einzige von ihnen hinreichend realisiert wird.

Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läſst sich
nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Rich-
tungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht un-
mittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung
hat die Differenzierung dahin geführt, daſs aus den wenigen
Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe der-
selben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen
scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren
Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften,
sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig
zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, daſs
es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit
sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Misch-
laute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war
eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen
zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine
völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Viel-
leicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen
Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der
monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Er-
sparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um
so gröſsere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile
sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich
mit dem des andern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere,
kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die
Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen
der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie
das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn
die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in die-
jenigen flieſsenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheit-
licher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des
Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position
bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit
in dem Maſse erleichtert, in dem die Starrheit streng be-
grenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen
verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen,
als so das Band, welches eine groſse Anzahl von Individuen
schematisch zusammengefaſst hat, durchgeschnitten wird und
statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des
Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während
jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer
subjektiven Charakter tragen — alle Synthesis, so drückt
Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, son-

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[118/0132] X 1. hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe — sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, daſs sie thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine einzige von ihnen hinreichend realisiert wird. Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läſst sich nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Rich- tungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht un- mittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung hat die Differenzierung dahin geführt, daſs aus den wenigen Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe der- selben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften, sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, daſs es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Misch- laute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Viel- leicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Er- sparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um so gröſsere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich mit dem des andern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere, kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in die- jenigen flieſsenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheit- licher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit in dem Maſse erleichtert, in dem die Starrheit streng be- grenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen, als so das Band, welches eine groſse Anzahl von Individuen schematisch zusammengefaſst hat, durchgeschnitten wird und statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer subjektiven Charakter tragen — alle Synthesis, so drückt Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, son-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/132>, abgerufen am 23.04.2024.