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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwi-
schen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirk-
lichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch
im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen
Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen
individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegen-
seitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu
einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter
sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm
zusammenwirken.

Dieser Gedanke lässt sich auch verallgemeinernd so
wenden, dass in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam
eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen
und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je
enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger
Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser
Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er
ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen
ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht
klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten
Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeinde-
glieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle indivi-
duellen Unterschiede möglichst ausschliessende Lebens- und
Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die
höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodass die Indi-
vidualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen,
andererseits die Hingabe an die grosse Gruppe ausschliesst.
Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was
Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen,
darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann
es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persön-
lichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschliessung, sodass diese
ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles ein-
gesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell
nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen.
Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir
uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin
mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität;
aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart,
dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.

Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits,
zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben,
dass es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein per-
sönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der
die Person angehört, zur Geltung bringen, -- so wird das
Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem
einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese
Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die

Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 4

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seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwi-
schen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirk-
lichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch
im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen
Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen
individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegen-
seitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu
einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter
sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm
zusammenwirken.

Dieser Gedanke läſst sich auch verallgemeinernd so
wenden, daſs in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam
eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen
und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je
enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger
Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser
Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er
ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen
ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht
klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten
Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeinde-
glieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle indivi-
duellen Unterschiede möglichst ausschlieſsende Lebens- und
Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die
höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodaſs die Indi-
vidualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen,
andererseits die Hingabe an die groſse Gruppe ausschlieſst.
Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was
Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen,
darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann
es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persön-
lichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschlieſsung, sodaſs diese
ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles ein-
gesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell
nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen.
Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir
uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin
mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität;
aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart,
dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.

Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits,
zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben,
daſs es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein per-
sönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der
die Person angehört, zur Geltung bringen, — so wird das
Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem
einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese
Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die

Forschungen (42) X 1. — Simmel. 4
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[49/0063] X 1. seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwi- schen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirk- lichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegen- seitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm zusammenwirken. Dieser Gedanke läſst sich auch verallgemeinernd so wenden, daſs in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeinde- glieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle indivi- duellen Unterschiede möglichst ausschlieſsende Lebens- und Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodaſs die Indi- vidualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen, andererseits die Hingabe an die groſse Gruppe ausschlieſst. Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen, darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persön- lichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschlieſsung, sodaſs diese ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles ein- gesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen. Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell. Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits, zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben, daſs es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein per- sönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der die Person angehört, zur Geltung bringen, — so wird das Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die Forschungen (42) X 1. — Simmel. 4

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/63>, abgerufen am 29.03.2024.