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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und
die äusseren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht,
folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in
Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, anderer-
seits die weit über die Grenzen der engeren socialen Um-
gebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht
sich direkt z. B. im Worte Dantes aus, dass -- bei all seiner
leidenschaftlichen Liebe zu Florenz -- ihm und seinesgleichen
die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; in-
direkt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch,
dass die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf,
von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind
und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie
auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben.
Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Gering-
schätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so
lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis
bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so
energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten
und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet
das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die
Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem
Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung
gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat.
Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener
Zeit deutlich ausgesprochen.

Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der
Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig
auf grossen Männern lastet, -- weil die objektiven Ideale,
von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen
weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen
und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen
ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist;
um so weit sehen zu können, muss man über die Nächst-
stehenden hinwegblicken.

Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der
Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivelle-
ment und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander
wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Cha-
rakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt,
kurz, die dem socialen und politischen Bewusstsein eine Mehr-
zahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, so-
bald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der
Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt,
andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der
mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der
freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Poly-
theismus des Altertums mit seinen lokal geschiedenen und in

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an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und
die äuſseren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht,
folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in
Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, anderer-
seits die weit über die Grenzen der engeren socialen Um-
gebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht
sich direkt z. B. im Worte Dantes aus, daſs — bei all seiner
leidenschaftlichen Liebe zu Florenz — ihm und seinesgleichen
die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; in-
direkt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch,
daſs die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf,
von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind
und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie
auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben.
Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Gering-
schätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so
lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis
bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so
energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten
und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet
das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die
Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem
Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung
gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat.
Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener
Zeit deutlich ausgesprochen.

Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der
Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig
auf groſsen Männern lastet, — weil die objektiven Ideale,
von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen
weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen
und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen
ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist;
um so weit sehen zu können, muſs man über die Nächst-
stehenden hinwegblicken.

Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der
Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivelle-
ment und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander
wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Cha-
rakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt,
kurz, die dem socialen und politischen Bewuſstsein eine Mehr-
zahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, so-
bald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der
Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt,
andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der
mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der
freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Poly-
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[53/0067] X 1. an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und die äuſseren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht, folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, anderer- seits die weit über die Grenzen der engeren socialen Um- gebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht sich direkt z. B. im Worte Dantes aus, daſs — bei all seiner leidenschaftlichen Liebe zu Florenz — ihm und seinesgleichen die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; in- direkt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch, daſs die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf, von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben. Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Gering- schätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat. Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener Zeit deutlich ausgesprochen. Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig auf groſsen Männern lastet, — weil die objektiven Ideale, von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist; um so weit sehen zu können, muſs man über die Nächst- stehenden hinwegblicken. Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivelle- ment und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Cha- rakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt, kurz, die dem socialen und politischen Bewuſstsein eine Mehr- zahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, so- bald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt, andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Poly- theismus des Altertums mit seinen lokal geschiedenen und in

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/67>, abgerufen am 18.04.2024.