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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
vielfachen Verhältnissen der Über- und Nebenordnung stehenden
Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeit-
rechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus;
so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen
Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie,
andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten.
Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das
Korrelat des Despotismus, und deshalb lässt gerade diejenige
Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze
gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten auf-
kommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines welt-
umspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellie-
renden Reiches gehabt.

In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen
individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine
andere Form an: die Erweiterung des Kreises steht mit der
Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des
Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer
höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle
Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung
die Heiligen, Stellvertretung übernimmt.

Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus
gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Sociali-
sierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem
Masse zu realisieren, sondern das eine Element kann unter
Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht
um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz
handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des
einen mit dem gleichen des andern verbände, sondern das
ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammen-
fassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und
modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie
oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, dass
die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern
vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so
die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewusster
Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend,
des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Inso-
weit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts- und
Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in
einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetz-
gebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an
die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an grössere Land-
gemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände
eine zu geringe personale und territoriale Basis besässen, um
ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden
zu lassen.


X 1.
vielfachen Verhältnissen der Über- und Nebenordnung stehenden
Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeit-
rechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus;
so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen
Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie,
andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten.
Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das
Korrelat des Despotismus, und deshalb läſst gerade diejenige
Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze
gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten auf-
kommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines welt-
umspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellie-
renden Reiches gehabt.

In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen
individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine
andere Form an: die Erweiterung des Kreises steht mit der
Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des
Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer
höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle
Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung
die Heiligen, Stellvertretung übernimmt.

Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus
gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Sociali-
sierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem
Maſse zu realisieren, sondern das eine Element kann unter
Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht
um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz
handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des
einen mit dem gleichen des andern verbände, sondern das
ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammen-
fassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und
modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie
oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, daſs
die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern
vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so
die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewuſster
Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend,
des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Inso-
weit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts- und
Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in
einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetz-
gebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an
die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an gröſsere Land-
gemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände
eine zu geringe personale und territoriale Basis besäſsen, um
ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden
zu lassen.


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[54/0068] X 1. vielfachen Verhältnissen der Über- und Nebenordnung stehenden Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeit- rechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus; so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie, andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten. Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das Korrelat des Despotismus, und deshalb läſst gerade diejenige Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten auf- kommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines welt- umspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellie- renden Reiches gehabt. In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine andere Form an: die Erweiterung des Kreises steht mit der Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung die Heiligen, Stellvertretung übernimmt. Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Sociali- sierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem Maſse zu realisieren, sondern das eine Element kann unter Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des einen mit dem gleichen des andern verbände, sondern das ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammen- fassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, daſs die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewuſster Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend, des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Inso- weit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts- und Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetz- gebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an gröſsere Land- gemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände eine zu geringe personale und territoriale Basis besäſsen, um ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden zu lassen.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/68>, abgerufen am 19.04.2024.