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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Sechstes Kapitel.
Der Stil des Lebens.

I.

In diesen Untersuchungen ist öfters erwähnt worden, dass die
seelische Energie, die die spezifischen Erscheinungen der Geldwirt-
schaft trägt, der Verstand ist, im Gegensatz zu derjenigen, die man
im allgemeinen als Gefühl oder Gemüt bezeichnet und die in dem
Leben der nicht geldwirtschaftlich bestimmten Perioden und Interessen-
provinzen vorzugsweise zu Worte kommen. Dies ist zunächst die Folge
des Mittelscharakters des Geldes. Alle Mittel als solche bedeuten, dass
die Verhältnisse und Verkettungen der Wirklichkeit in unseren Willens-
prozess aufgenommen werden. Sie sind nur durch ein objektives
Bild thatsächlicher Kausalverknüpfungen möglich, und offenbar würde
ein Geist, welcher die Gesamtheit dieser fehlerlos überschaute,
für jeden Zweck von jedem Ausgangspunkt aus die geeignetsten
Mittel geistig beherrschen. Aber dieser Intellekt, der die vollendete
Möglichkeit der Mittel in sich bärge, würde darum noch nicht die
geringste Wirklichkeit eines solchen produzieren, weil dazu die Setzung
eines Zweckes gehört, im Verhältnis zu dem jene realen Energien
und Verbindungen erst die Bedeutung von Mitteln erhalten und der
seinerseits erst durch eine Willensthat kreiert werden kann. So wenig
in der objektiven Welt, wenn kein Wille zu ihr hinzutritt, etwas
Zweck ist, so wenig in der Intellektualität, die doch nur eine voll-
kommenere oder unvollkommenere Darstellung des Weltinhaltes ist.
Und vom Willen hat man richtig gesagt, aber meistens falsch ver-
standen, dass er blind ist. Er ist es nämlich nicht in demselben Sinne,
wie Hödhr oder der geblendete Cyklop, die aufs geratewohl losstürmen; er
wirkt nichts Unvernünftiges, im Sinne des Wertbegriffes Vernunft, sondern

Sechstes Kapitel.
Der Stil des Lebens.

I.

In diesen Untersuchungen ist öfters erwähnt worden, daſs die
seelische Energie, die die spezifischen Erscheinungen der Geldwirt-
schaft trägt, der Verstand ist, im Gegensatz zu derjenigen, die man
im allgemeinen als Gefühl oder Gemüt bezeichnet und die in dem
Leben der nicht geldwirtschaftlich bestimmten Perioden und Interessen-
provinzen vorzugsweise zu Worte kommen. Dies ist zunächst die Folge
des Mittelscharakters des Geldes. Alle Mittel als solche bedeuten, daſs
die Verhältnisse und Verkettungen der Wirklichkeit in unseren Willens-
prozeſs aufgenommen werden. Sie sind nur durch ein objektives
Bild thatsächlicher Kausalverknüpfungen möglich, und offenbar würde
ein Geist, welcher die Gesamtheit dieser fehlerlos überschaute,
für jeden Zweck von jedem Ausgangspunkt aus die geeignetsten
Mittel geistig beherrschen. Aber dieser Intellekt, der die vollendete
Möglichkeit der Mittel in sich bärge, würde darum noch nicht die
geringste Wirklichkeit eines solchen produzieren, weil dazu die Setzung
eines Zweckes gehört, im Verhältnis zu dem jene realen Energien
und Verbindungen erst die Bedeutung von Mitteln erhalten und der
seinerseits erst durch eine Willensthat kreiert werden kann. So wenig
in der objektiven Welt, wenn kein Wille zu ihr hinzutritt, etwas
Zweck ist, so wenig in der Intellektualität, die doch nur eine voll-
kommenere oder unvollkommenere Darstellung des Weltinhaltes ist.
Und vom Willen hat man richtig gesagt, aber meistens falsch ver-
standen, daſs er blind ist. Er ist es nämlich nicht in demselben Sinne,
wie Hödhr oder der geblendete Cyklop, die aufs geratewohl losstürmen; er
wirkt nichts Unvernünftiges, im Sinne des Wertbegriffes Vernunft, sondern

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[[455]/0479] Sechstes Kapitel. Der Stil des Lebens. I. In diesen Untersuchungen ist öfters erwähnt worden, daſs die seelische Energie, die die spezifischen Erscheinungen der Geldwirt- schaft trägt, der Verstand ist, im Gegensatz zu derjenigen, die man im allgemeinen als Gefühl oder Gemüt bezeichnet und die in dem Leben der nicht geldwirtschaftlich bestimmten Perioden und Interessen- provinzen vorzugsweise zu Worte kommen. Dies ist zunächst die Folge des Mittelscharakters des Geldes. Alle Mittel als solche bedeuten, daſs die Verhältnisse und Verkettungen der Wirklichkeit in unseren Willens- prozeſs aufgenommen werden. Sie sind nur durch ein objektives Bild thatsächlicher Kausalverknüpfungen möglich, und offenbar würde ein Geist, welcher die Gesamtheit dieser fehlerlos überschaute, für jeden Zweck von jedem Ausgangspunkt aus die geeignetsten Mittel geistig beherrschen. Aber dieser Intellekt, der die vollendete Möglichkeit der Mittel in sich bärge, würde darum noch nicht die geringste Wirklichkeit eines solchen produzieren, weil dazu die Setzung eines Zweckes gehört, im Verhältnis zu dem jene realen Energien und Verbindungen erst die Bedeutung von Mitteln erhalten und der seinerseits erst durch eine Willensthat kreiert werden kann. So wenig in der objektiven Welt, wenn kein Wille zu ihr hinzutritt, etwas Zweck ist, so wenig in der Intellektualität, die doch nur eine voll- kommenere oder unvollkommenere Darstellung des Weltinhaltes ist. Und vom Willen hat man richtig gesagt, aber meistens falsch ver- standen, daſs er blind ist. Er ist es nämlich nicht in demselben Sinne, wie Hödhr oder der geblendete Cyklop, die aufs geratewohl losstürmen; er wirkt nichts Unvernünftiges, im Sinne des Wertbegriffes Vernunft, sondern

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [455]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/479>, abgerufen am 28.03.2024.