Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Soden, Julius von: Alethia. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn die Seele irgend einen Gegenstand
auffaßt, so scheint sie allerdings alle ihre Kraft
auf diese Leidenschaft zu konzentriren, an ihm
alle Quellen ihrer Empfindungen zu erschöp-
fen. -- Aber dieß ist doch nur der Fall bei
dem höchsten Grad von Liebe, den man aus-
zeichnungsweise Leidenschaft nennt, der
an Wahnsinn gränzt, vielmehr eine Krank-
heit der Seele als ein eigenthümliches Sym-
ptom ist.

Leidenschaft mag man also nur für
Ein Wesen fühlen können, aber darum
nicht Liebe. Wenn nun die Seele eines We-
sens von dem zartesten Gewebe, wenn ihre
Empfänglichkeit für das Schöne und Gute
bis zu einem hohen Grade gespannt ist, wenn
es nun dieses Schöne und Gute unter meh-
rere Wesen vertheilt, hier Sanftheit und

Wenn die Seele irgend einen Gegenſtand
auffaßt, ſo ſcheint ſie allerdings alle ihre Kraft
auf dieſe Leidenſchaft zu konzentriren, an ihm
alle Quellen ihrer Empfindungen zu erſchoͤp-
fen. — Aber dieß iſt doch nur der Fall bei
dem hoͤchſten Grad von Liebe, den man aus-
zeichnungsweiſe Leidenſchaft nennt, der
an Wahnſinn graͤnzt, vielmehr eine Krank-
heit der Seele als ein eigenthuͤmliches Sym-
ptom iſt.

Leidenſchaft mag man alſo nur fuͤr
Ein Weſen fuͤhlen koͤnnen, aber darum
nicht Liebe. Wenn nun die Seele eines We-
ſens von dem zarteſten Gewebe, wenn ihre
Empfaͤnglichkeit fuͤr das Schoͤne und Gute
bis zu einem hohen Grade geſpannt iſt, wenn
es nun dieſes Schoͤne und Gute unter meh-
rere Weſen vertheilt, hier Sanftheit und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0018" n="6"/>
        <p>Wenn die Seele irgend einen Gegen&#x017F;tand<lb/>
auffaßt, &#x017F;o &#x017F;cheint &#x017F;ie allerdings alle ihre Kraft<lb/>
auf die&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft zu konzentriren, an ihm<lb/>
alle Quellen ihrer Empfindungen zu er&#x017F;cho&#x0364;p-<lb/>
fen. &#x2014; Aber dieß i&#x017F;t doch nur der Fall bei<lb/>
dem <hi rendition="#g">ho&#x0364;ch&#x017F;ten</hi> Grad von Liebe, den man aus-<lb/>
zeichnungswei&#x017F;e <hi rendition="#g">Leiden&#x017F;chaft</hi> nennt, der<lb/>
an Wahn&#x017F;inn gra&#x0364;nzt, vielmehr eine Krank-<lb/>
heit der Seele als ein eigenthu&#x0364;mliches Sym-<lb/>
ptom i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Leiden&#x017F;chaft</hi> mag man al&#x017F;o nur fu&#x0364;r<lb/>
Ein We&#x017F;en fu&#x0364;hlen ko&#x0364;nnen, aber darum<lb/>
nicht Liebe. Wenn nun die Seele eines We-<lb/>
&#x017F;ens von dem zarte&#x017F;ten Gewebe, wenn ihre<lb/>
Empfa&#x0364;nglichkeit fu&#x0364;r das Scho&#x0364;ne und Gute<lb/>
bis zu einem hohen Grade ge&#x017F;pannt i&#x017F;t, wenn<lb/>
es nun die&#x017F;es Scho&#x0364;ne und Gute unter meh-<lb/>
rere We&#x017F;en vertheilt, hier Sanftheit und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0018] Wenn die Seele irgend einen Gegenſtand auffaßt, ſo ſcheint ſie allerdings alle ihre Kraft auf dieſe Leidenſchaft zu konzentriren, an ihm alle Quellen ihrer Empfindungen zu erſchoͤp- fen. — Aber dieß iſt doch nur der Fall bei dem hoͤchſten Grad von Liebe, den man aus- zeichnungsweiſe Leidenſchaft nennt, der an Wahnſinn graͤnzt, vielmehr eine Krank- heit der Seele als ein eigenthuͤmliches Sym- ptom iſt. Leidenſchaft mag man alſo nur fuͤr Ein Weſen fuͤhlen koͤnnen, aber darum nicht Liebe. Wenn nun die Seele eines We- ſens von dem zarteſten Gewebe, wenn ihre Empfaͤnglichkeit fuͤr das Schoͤne und Gute bis zu einem hohen Grade geſpannt iſt, wenn es nun dieſes Schoͤne und Gute unter meh- rere Weſen vertheilt, hier Sanftheit und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/soden_alethia_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/soden_alethia_1796/18
Zitationshilfe: Soden, Julius von: Alethia. Leipzig, 1796, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/soden_alethia_1796/18>, abgerufen am 24.04.2024.