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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

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gen mich gekehrt, und zeichnete mit seinem Stocke
einige Figuren im Sande. Meine Ehrfurcht wag-
te es nicht, ihn zu stöhren, aber mein Herz labte
sich mit der angenehmen Hofnung, daß der gast-
freie Herr des Schlosses den seltnen Gelehrten si-
cher zur Tafel geladen habe, und es mir dann
besser glücken werde, Bekanntschaft mit ihm zu
machen. Ich erwog eben: ob diese Figuren nicht
irgend eine mathematische, äusserst schwere Aufga-
be lösen sollten? als ein Ochsenknecht nahe an
dem grauen Manne vorüber gieng und ihn mit
einer treuherzigen Freundlichkeit auf die Achsel
klopfte. Wie gehts? Karl, wie gehts? fragte er
ihn lachend, und drehte ihn, zu meinem größten
Erstaunen, einigemal im Kreise herum. Gott im
Himmel, dachte ich, der Kerl verkennt ihn sicher,
er wird's für Beleidigung nehmen, und vielleicht
die Einladung verschmähen! Aber der graue
Mann dachte, zu meiner größten Freude, billiger.
Ein Blick, eben so zornig, und am Ende eben so
gütig, wie derjenige war, den ich vor kurzem so
bewundert hatte, war alles, womit er diese rohe
Beleidigung ahndete. Sein Stock war ihm im
Drehen entfallen, er hob ihn stillschweigend auf,
und zeichnete von neuem. Da der kühne Knecht
bei mir vorüber gieng, so hielt ich's für Pflicht,
ihn auf seinen groben Fehler aufmerksam zu ma-
chen, und in Güte zur Abbitte zu bewegen.


C 2

gen mich gekehrt, und zeichnete mit ſeinem Stocke
einige Figuren im Sande. Meine Ehrfurcht wag-
te es nicht, ihn zu ſtoͤhren, aber mein Herz labte
ſich mit der angenehmen Hofnung, daß der gaſt-
freie Herr des Schloſſes den ſeltnen Gelehrten ſi-
cher zur Tafel geladen habe, und es mir dann
beſſer gluͤcken werde, Bekanntſchaft mit ihm zu
machen. Ich erwog eben: ob dieſe Figuren nicht
irgend eine mathematiſche, aͤuſſerſt ſchwere Aufga-
be loͤſen ſollten? als ein Ochſenknecht nahe an
dem grauen Manne voruͤber gieng und ihn mit
einer treuherzigen Freundlichkeit auf die Achſel
klopfte. Wie gehts? Karl, wie gehts? fragte er
ihn lachend, und drehte ihn, zu meinem groͤßten
Erſtaunen, einigemal im Kreiſe herum. Gott im
Himmel, dachte ich, der Kerl verkennt ihn ſicher,
er wird's fuͤr Beleidigung nehmen, und vielleicht
die Einladung verſchmaͤhen! Aber der graue
Mann dachte, zu meiner groͤßten Freude, billiger.
Ein Blick, eben ſo zornig, und am Ende eben ſo
guͤtig, wie derjenige war, den ich vor kurzem ſo
bewundert hatte, war alles, womit er dieſe rohe
Beleidigung ahndete. Sein Stock war ihm im
Drehen entfallen, er hob ihn ſtillſchweigend auf,
und zeichnete von neuem. Da der kuͤhne Knecht
bei mir voruͤber gieng, ſo hielt ich's fuͤr Pflicht,
ihn auf ſeinen groben Fehler aufmerkſam zu ma-
chen, und in Guͤte zur Abbitte zu bewegen.


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[35/0049] gen mich gekehrt, und zeichnete mit ſeinem Stocke einige Figuren im Sande. Meine Ehrfurcht wag- te es nicht, ihn zu ſtoͤhren, aber mein Herz labte ſich mit der angenehmen Hofnung, daß der gaſt- freie Herr des Schloſſes den ſeltnen Gelehrten ſi- cher zur Tafel geladen habe, und es mir dann beſſer gluͤcken werde, Bekanntſchaft mit ihm zu machen. Ich erwog eben: ob dieſe Figuren nicht irgend eine mathematiſche, aͤuſſerſt ſchwere Aufga- be loͤſen ſollten? als ein Ochſenknecht nahe an dem grauen Manne voruͤber gieng und ihn mit einer treuherzigen Freundlichkeit auf die Achſel klopfte. Wie gehts? Karl, wie gehts? fragte er ihn lachend, und drehte ihn, zu meinem groͤßten Erſtaunen, einigemal im Kreiſe herum. Gott im Himmel, dachte ich, der Kerl verkennt ihn ſicher, er wird's fuͤr Beleidigung nehmen, und vielleicht die Einladung verſchmaͤhen! Aber der graue Mann dachte, zu meiner groͤßten Freude, billiger. Ein Blick, eben ſo zornig, und am Ende eben ſo guͤtig, wie derjenige war, den ich vor kurzem ſo bewundert hatte, war alles, womit er dieſe rohe Beleidigung ahndete. Sein Stock war ihm im Drehen entfallen, er hob ihn ſtillſchweigend auf, und zeichnete von neuem. Da der kuͤhne Knecht bei mir voruͤber gieng, ſo hielt ich's fuͤr Pflicht, ihn auf ſeinen groben Fehler aufmerkſam zu ma- chen, und in Guͤte zur Abbitte zu bewegen. C 2

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/49>, abgerufen am 28.03.2024.