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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

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Exerzieren übte, und endlich seine nicht geringen
Kenntnisse, welche er sich auf der Schule gesam-
melt hatte, erwarben ihm bald die Achtung seiner
Vorgesetzten, sie erleichterten ihm nicht allein sein
unglückliches Loos, sie halfen ihm auch vorwärts.
Er diente im andern Jahre schon als Korporal
unter dem Regimente, welches ihn gefangen ge-
nommen hatte. Sein Schicksal, das nun wieder
zu lächeln schien, führte ihn in ein ruhiges Win-
terquartier nach M***dorf, wo er bei dem Pfar-
rer des Orts ein gutes Quartier fand, und von
diesem bald als Sohn, von seinen drei erwachse-
nen Töchtern als Bruder geliebt wurde. Die
jüngste derselben war ein sehr schönes, blühendes
und gefühlvolles Mädchen, sie nahm warmen An-
theil an dem Schicksale der ebenfalls schönen,
und leider auch empfindsamen Jünglings, ihr in-
niges Mitleid verwandelte sich bald in eben so in-
nige Liebe, der Jüngling fühlte und erwiederte sie
im vollen Maße. Zeit und Gelegenheit war der-
selben gleich günstig. Lottchens zwei Schwestern
waren von einer alten Muhme, die sie zu beerben
hoften, nach der Stadt berufen worden, sie muß-
te daheim bleiben, und die Wirthschaft führen,
weil die Mutter schon längst gestorben war. Der
alte Vater gieng gewöhnlich sehr früh zu Bette,
die müden Knechte und Mägde folgten bald nach,
und nun konnten die Liebenden oft halbe, manch-
mal ganze Nächte Arm in Arm allein sitzen, sich
ewige Liebe schwören; und ihre reinen, unschuldi-

Exerzieren uͤbte, und endlich ſeine nicht geringen
Kenntniſſe, welche er ſich auf der Schule geſam-
melt hatte, erwarben ihm bald die Achtung ſeiner
Vorgeſetzten, ſie erleichterten ihm nicht allein ſein
ungluͤckliches Loos, ſie halfen ihm auch vorwaͤrts.
Er diente im andern Jahre ſchon als Korporal
unter dem Regimente, welches ihn gefangen ge-
nommen hatte. Sein Schickſal, das nun wieder
zu laͤcheln ſchien, fuͤhrte ihn in ein ruhiges Win-
terquartier nach M***dorf, wo er bei dem Pfar-
rer des Orts ein gutes Quartier fand, und von
dieſem bald als Sohn, von ſeinen drei erwachſe-
nen Toͤchtern als Bruder geliebt wurde. Die
juͤngſte derſelben war ein ſehr ſchoͤnes, bluͤhendes
und gefuͤhlvolles Maͤdchen, ſie nahm warmen An-
theil an dem Schickſale der ebenfalls ſchoͤnen,
und leider auch empfindſamen Juͤnglings, ihr in-
niges Mitleid verwandelte ſich bald in eben ſo in-
nige Liebe, der Juͤngling fuͤhlte und erwiederte ſie
im vollen Maße. Zeit und Gelegenheit war der-
ſelben gleich guͤnſtig. Lottchens zwei Schweſtern
waren von einer alten Muhme, die ſie zu beerben
hoften, nach der Stadt berufen worden, ſie muß-
te daheim bleiben, und die Wirthſchaft fuͤhren,
weil die Mutter ſchon laͤngſt geſtorben war. Der
alte Vater gieng gewoͤhnlich ſehr fruͤh zu Bette,
die muͤden Knechte und Maͤgde folgten bald nach,
und nun konnten die Liebenden oft halbe, manch-
mal ganze Naͤchte Arm in Arm allein ſitzen, ſich
ewige Liebe ſchwoͤren; und ihre reinen, unſchuldi-

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[60/0074] Exerzieren uͤbte, und endlich ſeine nicht geringen Kenntniſſe, welche er ſich auf der Schule geſam- melt hatte, erwarben ihm bald die Achtung ſeiner Vorgeſetzten, ſie erleichterten ihm nicht allein ſein ungluͤckliches Loos, ſie halfen ihm auch vorwaͤrts. Er diente im andern Jahre ſchon als Korporal unter dem Regimente, welches ihn gefangen ge- nommen hatte. Sein Schickſal, das nun wieder zu laͤcheln ſchien, fuͤhrte ihn in ein ruhiges Win- terquartier nach M***dorf, wo er bei dem Pfar- rer des Orts ein gutes Quartier fand, und von dieſem bald als Sohn, von ſeinen drei erwachſe- nen Toͤchtern als Bruder geliebt wurde. Die juͤngſte derſelben war ein ſehr ſchoͤnes, bluͤhendes und gefuͤhlvolles Maͤdchen, ſie nahm warmen An- theil an dem Schickſale der ebenfalls ſchoͤnen, und leider auch empfindſamen Juͤnglings, ihr in- niges Mitleid verwandelte ſich bald in eben ſo in- nige Liebe, der Juͤngling fuͤhlte und erwiederte ſie im vollen Maße. Zeit und Gelegenheit war der- ſelben gleich guͤnſtig. Lottchens zwei Schweſtern waren von einer alten Muhme, die ſie zu beerben hoften, nach der Stadt berufen worden, ſie muß- te daheim bleiben, und die Wirthſchaft fuͤhren, weil die Mutter ſchon laͤngſt geſtorben war. Der alte Vater gieng gewoͤhnlich ſehr fruͤh zu Bette, die muͤden Knechte und Maͤgde folgten bald nach, und nun konnten die Liebenden oft halbe, manch- mal ganze Naͤchte Arm in Arm allein ſitzen, ſich ewige Liebe ſchwoͤren; und ihre reinen, unſchuldi-

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/74>, abgerufen am 24.04.2024.