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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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weil der alte Pflegvater fünfhundert Gulden zu
ihrem Heirathsgute bestimmt hatte.

Viele verstanden den suchenden Blick, viele
suchten ihn durch Geberden und Worte zu erwie-
dern, aber Marie sah und hörte es nicht, weil
ihr Auge schon gefunden hatte, was es suchte,
und vergebens der Vernunft den Eindruck zu ver-
bergen suchte, welchen ein junger, schöner Ehe-
mann auf ihr Herz gemacht hatte.

Sie kannte und sah ihn vorher nie, er war
vor kurzem erst als Schaafmeister in herrschaft-
liche Dienste getreten, ihr Auge erblickte ihn zum
erstenmale in der Kirche, und blieb fest an ihm
hangen.

Vergebens zeigte ihr die Vernunft das neben
ihm stehende junge Weib, vergebens suchte sie ihr
zu beweisen, daß dieses wahrscheinlich eben so
lange als sie leben könne; der Gedanke: dieß ist
dein künftiger Mann! dieß muß dein Gatte wer-
den! stand von diesem Augenblicke an in ihrem
Herzen, schwebte vor ihren Augen, ra[u]bte ihr
Ruhe und Schlaf, quälte sie rastlos und unauf-
hörlich.

So erzählte sie es in der Folge oft ihren Be-
kannten und Freunden, nahms für unerklärbare
Ahndung, welche mit einmal ihr Herz erfüllt
hätte.

Marie war äußerst sittsam und gottesfürchtig
erzogen worden, man hatte ihr die Gesellschaft

Zweit. Bändch. L

weil der alte Pflegvater fuͤnfhundert Gulden zu
ihrem Heirathsgute beſtimmt hatte.

Viele verſtanden den ſuchenden Blick, viele
ſuchten ihn durch Geberden und Worte zu erwie-
dern, aber Marie ſah und hoͤrte es nicht, weil
ihr Auge ſchon gefunden hatte, was es ſuchte,
und vergebens der Vernunft den Eindruck zu ver-
bergen ſuchte, welchen ein junger, ſchoͤner Ehe-
mann auf ihr Herz gemacht hatte.

Sie kannte und ſah ihn vorher nie, er war
vor kurzem erſt als Schaafmeiſter in herrſchaft-
liche Dienſte getreten, ihr Auge erblickte ihn zum
erſtenmale in der Kirche, und blieb feſt an ihm
hangen.

Vergebens zeigte ihr die Vernunft das neben
ihm ſtehende junge Weib, vergebens ſuchte ſie ihr
zu beweiſen, daß dieſes wahrſcheinlich eben ſo
lange als ſie leben koͤnne; der Gedanke: dieß iſt
dein kuͤnftiger Mann! dieß muß dein Gatte wer-
den! ſtand von dieſem Augenblicke an in ihrem
Herzen, ſchwebte vor ihren Augen, ra[u]bte ihr
Ruhe und Schlaf, quaͤlte ſie raſtlos und unauf-
hoͤrlich.

So erzaͤhlte ſie es in der Folge oft ihren Be-
kannten und Freunden, nahms fuͤr unerklaͤrbare
Ahndung, welche mit einmal ihr Herz erfuͤllt
haͤtte.

Marie war aͤußerſt ſittſam und gottesfuͤrchtig
erzogen worden, man hatte ihr die Geſellſchaft

Zweit. Baͤndch. L
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[161/0169] weil der alte Pflegvater fuͤnfhundert Gulden zu ihrem Heirathsgute beſtimmt hatte. Viele verſtanden den ſuchenden Blick, viele ſuchten ihn durch Geberden und Worte zu erwie- dern, aber Marie ſah und hoͤrte es nicht, weil ihr Auge ſchon gefunden hatte, was es ſuchte, und vergebens der Vernunft den Eindruck zu ver- bergen ſuchte, welchen ein junger, ſchoͤner Ehe- mann auf ihr Herz gemacht hatte. Sie kannte und ſah ihn vorher nie, er war vor kurzem erſt als Schaafmeiſter in herrſchaft- liche Dienſte getreten, ihr Auge erblickte ihn zum erſtenmale in der Kirche, und blieb feſt an ihm hangen. Vergebens zeigte ihr die Vernunft das neben ihm ſtehende junge Weib, vergebens ſuchte ſie ihr zu beweiſen, daß dieſes wahrſcheinlich eben ſo lange als ſie leben koͤnne; der Gedanke: dieß iſt dein kuͤnftiger Mann! dieß muß dein Gatte wer- den! ſtand von dieſem Augenblicke an in ihrem Herzen, ſchwebte vor ihren Augen, raubte ihr Ruhe und Schlaf, quaͤlte ſie raſtlos und unauf- hoͤrlich. So erzaͤhlte ſie es in der Folge oft ihren Be- kannten und Freunden, nahms fuͤr unerklaͤrbare Ahndung, welche mit einmal ihr Herz erfuͤllt haͤtte. Marie war aͤußerſt ſittſam und gottesfuͤrchtig erzogen worden, man hatte ihr die Geſellſchaft Zweit. Baͤndch. L

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/169>, abgerufen am 25.04.2024.