Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

"fung reicht. Du theilst dich in verschiedene
"Zweige, du liebst als Freund, als Mut-
"ter und Vater, als Bruder und Kind, als
"Gatte und zärtlicher Liebhaber; aber du
"bist und bleibst Gift! Betrügt nicht auch
"der Frennd den Freund, flucht nicht oft der
"Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die
"Eltern, der Bruder die Schwester, wird
"nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte
"dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana
"des menschlichen Geschlechts! So will ich dich
"künftig nennen! -- -- Schön und reitzend
"gieng sie gestern vor mir über, lockend und
"anziehend war ihre Gestalt! Ich hätte vor
"ihr niederknien und sie anbeten mögen, wie
"sie mitleidig und liebevoll den gefallenen
"Buben aufhob, ihm das Butterbrod wieder
"in die Hand steckte, seine Wangen streichelte,
"und seine Thränen trocknete. Millionen --
"wenn ich sie besäße -- hätte ich geopfert,
"um die Stelle des gefühllosen Buben ein-

„fung reicht. Du theilſt dich in verſchiedene
„Zweige, du liebſt als Freund, als Mut-
„ter und Vater, als Bruder und Kind, als
„Gatte und zaͤrtlicher Liebhaber; aber du
„biſt und bleibſt Gift! Betruͤgt nicht auch
„der Frennd den Freund, flucht nicht oft der
„Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die
„Eltern, der Bruder die Schweſter, wird
„nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte
„dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana
„des menſchlichen Geſchlechts! So will ich dich
„kuͤnftig nennen! — — Schoͤn und reitzend
„gieng ſie geſtern vor mir uͤber, lockend und
„anziehend war ihre Geſtalt! Ich haͤtte vor
„ihr niederknien und ſie anbeten moͤgen, wie
„ſie mitleidig und liebevoll den gefallenen
„Buben aufhob, ihm das Butterbrod wieder
„in die Hand ſteckte, ſeine Wangen ſtreichelte,
„und ſeine Thraͤnen trocknete. Millionen —
„wenn ich ſie beſaͤße — haͤtte ich geopfert,
„um die Stelle des gefuͤhlloſen Buben ein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0037" n="23"/>
&#x201E;fung reicht. Du theil&#x017F;t dich in ver&#x017F;chiedene<lb/>
&#x201E;Zweige, du lieb&#x017F;t als Freund, als Mut-<lb/>
&#x201E;ter und Vater, als Bruder und Kind, als<lb/>
&#x201E;Gatte und za&#x0364;rtlicher Liebhaber; aber du<lb/>
&#x201E;bi&#x017F;t und bleib&#x017F;t Gift! Betru&#x0364;gt nicht auch<lb/>
&#x201E;der Frennd den Freund, flucht nicht oft der<lb/>
&#x201E;Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die<lb/>
&#x201E;Eltern, der Bruder die Schwe&#x017F;ter, wird<lb/>
&#x201E;nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte<lb/>
&#x201E;dem Liebhaber oft ungetreu? <hi rendition="#aq">Aqua toffana</hi><lb/>
&#x201E;des men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechts! So will ich dich<lb/>
&#x201E;ku&#x0364;nftig nennen! &#x2014; &#x2014; Scho&#x0364;n und reitzend<lb/>
&#x201E;gieng &#x017F;ie ge&#x017F;tern vor mir u&#x0364;ber, lockend und<lb/>
&#x201E;anziehend war ihre Ge&#x017F;talt! Ich ha&#x0364;tte vor<lb/>
&#x201E;ihr niederknien und &#x017F;ie anbeten mo&#x0364;gen, wie<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie mitleidig und liebevoll den gefallenen<lb/>
&#x201E;Buben <choice><sic>anfhob</sic><corr>aufhob</corr></choice>, ihm das Butterbrod wieder<lb/>
&#x201E;in die Hand &#x017F;teckte, &#x017F;eine Wangen &#x017F;treichelte,<lb/>
&#x201E;und &#x017F;eine Thra&#x0364;nen trocknete. Millionen &#x2014;<lb/>
&#x201E;wenn ich &#x017F;ie be&#x017F;a&#x0364;ße &#x2014; ha&#x0364;tte ich geopfert,<lb/>
&#x201E;um die Stelle des gefu&#x0364;hllo&#x017F;en Buben ein-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0037] „fung reicht. Du theilſt dich in verſchiedene „Zweige, du liebſt als Freund, als Mut- „ter und Vater, als Bruder und Kind, als „Gatte und zaͤrtlicher Liebhaber; aber du „biſt und bleibſt Gift! Betruͤgt nicht auch „der Frennd den Freund, flucht nicht oft der „Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die „Eltern, der Bruder die Schweſter, wird „nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte „dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana „des menſchlichen Geſchlechts! So will ich dich „kuͤnftig nennen! — — Schoͤn und reitzend „gieng ſie geſtern vor mir uͤber, lockend und „anziehend war ihre Geſtalt! Ich haͤtte vor „ihr niederknien und ſie anbeten moͤgen, wie „ſie mitleidig und liebevoll den gefallenen „Buben aufhob, ihm das Butterbrod wieder „in die Hand ſteckte, ſeine Wangen ſtreichelte, „und ſeine Thraͤnen trocknete. Millionen — „wenn ich ſie beſaͤße — haͤtte ich geopfert, „um die Stelle des gefuͤhlloſen Buben ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/37
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/37>, abgerufen am 28.03.2024.