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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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zwar an Abstammung und Recht dem älteren gleich, an Besitz und
Einfluß aber ihm untergeordnet ist, denn die Hufe geht unter allen
Geschlechterordnungen ungetheilt auf den älteren Sohn über. Jetzt tritt
daher die Zeit ein, wo der Unterschied der besitzenden und nicht be-
sitzenden Classe auch in dieser Gesellschaftsordnung sich zur Geltung
bringt. Die jüngeren nichtbesitzenden Söhne suchen einen neuen Besitz;
und so entsteht die erste eigentliche Auswanderung. Sie zeigt in
ihrer Form ihren Ursprung. Die Auswandernden nehmen zuerst die
Idee der Geschlechterordnung und daher auch des Zusammenhangs mit
der früheren Heimath mit sich. Sie bilden in der Fremde wieder Ge-
schlechterordnungen; und diese Niederlassungen sind die ersten Colonien.
Die Bedeutung der "Colonie" ist eine ganz specifische; unter ihr ver-
stehen wir immer eine Auswanderung, welche innerhalb der aufrecht
erhaltenen Verbindung mit dem Mutterlande die gesellschaftliche und
staatliche Ordnung desselben reproducirt; aber stets in freierer Form.
Diese Bedeutung der Colonie hat sich bis auf unsere Zeit erhalten, und mit
Recht fühlt daher auch Roscher in seinem oben angeführten Werke, daß
man zwischen der Auswanderung und Colonisation einen wesentlichen Unter-
schied machen müsse, ohne zu erkennen, worauf derselbe eigentlich beruht.
Die Colonien der alten Welt nun theilen sich gleich anfangs in zwei Grund-
formen, welche in der griechischen und römischen Welt zur Erscheinung ge-
langen. Die erste Grundform ist die Handelscolonie, die zur Zeit
der Phönizier, Karthager, Athenienser, wie in der unmittelbaren Gegen-
wart von Hamburg und Bremen aus stets von den jüngeren Söhnen
namentlich der Mittelclasse bevölkert werden, denen in der Heimath der
Raum zu eng ist. Die zweite Grundform ist die der Militärcolo-
nien
, welche den ihnen in der Heimath fehlenden Besitz nicht durch
Handel und Gewerbe, sondern durch Eroberung von Grund und Boden
gewinnen wollen. Auch bei den Mititärcolonien ist der Grund der
Auswanderung stets der Mangel an Besitz der mittleren und niederen
Classe, und nur das Mißverständniß, das die Dinge nach der Form
und nicht nach dem Inhalt behandelt, hat den innern Zusammenhang
übersehen, und in Militär- oder Eroberungscolonien und Handelscolo-
nien etwas wesentlich Verschiedenes sehen, überhaupt die Colonie
nach ihrer äußeren Form und nicht nach ihrem Grunde eintheilen wollen
(Roscher, Colonien, S. 1 ff.). Das Wesen und die Bedeutung der
römischen Colonien und ihren agrarischen Zusammenhang mit den
socialen Zuständen und den organischen Gesetzen hat am besten Napo-
leon
III. in seinem Leben Cäsars dargestellt. Roschers Ansicht
("um mehr Kriegsmannschaft heranwachsen zu lassen," S. 11) ist für
jedes höhere Verständniß fast unbegreiflich. Diese Form der Colonien

zwar an Abſtammung und Recht dem älteren gleich, an Beſitz und
Einfluß aber ihm untergeordnet iſt, denn die Hufe geht unter allen
Geſchlechterordnungen ungetheilt auf den älteren Sohn über. Jetzt tritt
daher die Zeit ein, wo der Unterſchied der beſitzenden und nicht be-
ſitzenden Claſſe auch in dieſer Geſellſchaftsordnung ſich zur Geltung
bringt. Die jüngeren nichtbeſitzenden Söhne ſuchen einen neuen Beſitz;
und ſo entſteht die erſte eigentliche Auswanderung. Sie zeigt in
ihrer Form ihren Urſprung. Die Auswandernden nehmen zuerſt die
Idee der Geſchlechterordnung und daher auch des Zuſammenhangs mit
der früheren Heimath mit ſich. Sie bilden in der Fremde wieder Ge-
ſchlechterordnungen; und dieſe Niederlaſſungen ſind die erſten Colonien.
Die Bedeutung der „Colonie“ iſt eine ganz ſpecifiſche; unter ihr ver-
ſtehen wir immer eine Auswanderung, welche innerhalb der aufrecht
erhaltenen Verbindung mit dem Mutterlande die geſellſchaftliche und
ſtaatliche Ordnung deſſelben reproducirt; aber ſtets in freierer Form.
Dieſe Bedeutung der Colonie hat ſich bis auf unſere Zeit erhalten, und mit
Recht fühlt daher auch Roſcher in ſeinem oben angeführten Werke, daß
man zwiſchen der Auswanderung und Coloniſation einen weſentlichen Unter-
ſchied machen müſſe, ohne zu erkennen, worauf derſelbe eigentlich beruht.
Die Colonien der alten Welt nun theilen ſich gleich anfangs in zwei Grund-
formen, welche in der griechiſchen und römiſchen Welt zur Erſcheinung ge-
langen. Die erſte Grundform iſt die Handelscolonie, die zur Zeit
der Phönizier, Karthager, Athenienſer, wie in der unmittelbaren Gegen-
wart von Hamburg und Bremen aus ſtets von den jüngeren Söhnen
namentlich der Mittelclaſſe bevölkert werden, denen in der Heimath der
Raum zu eng iſt. Die zweite Grundform iſt die der Militärcolo-
nien
, welche den ihnen in der Heimath fehlenden Beſitz nicht durch
Handel und Gewerbe, ſondern durch Eroberung von Grund und Boden
gewinnen wollen. Auch bei den Mititärcolonien iſt der Grund der
Auswanderung ſtets der Mangel an Beſitz der mittleren und niederen
Claſſe, und nur das Mißverſtändniß, das die Dinge nach der Form
und nicht nach dem Inhalt behandelt, hat den innern Zuſammenhang
überſehen, und in Militär- oder Eroberungscolonien und Handelscolo-
nien etwas weſentlich Verſchiedenes ſehen, überhaupt die Colonie
nach ihrer äußeren Form und nicht nach ihrem Grunde eintheilen wollen
(Roſcher, Colonien, S. 1 ff.). Das Weſen und die Bedeutung der
römiſchen Colonien und ihren agrariſchen Zuſammenhang mit den
ſocialen Zuſtänden und den organiſchen Geſetzen hat am beſten Napo-
leon
III. in ſeinem Leben Cäſars dargeſtellt. Roſchers Anſicht
(„um mehr Kriegsmannſchaft heranwachſen zu laſſen,“ S. 11) iſt für
jedes höhere Verſtändniß faſt unbegreiflich. Dieſe Form der Colonien

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[187/0209] zwar an Abſtammung und Recht dem älteren gleich, an Beſitz und Einfluß aber ihm untergeordnet iſt, denn die Hufe geht unter allen Geſchlechterordnungen ungetheilt auf den älteren Sohn über. Jetzt tritt daher die Zeit ein, wo der Unterſchied der beſitzenden und nicht be- ſitzenden Claſſe auch in dieſer Geſellſchaftsordnung ſich zur Geltung bringt. Die jüngeren nichtbeſitzenden Söhne ſuchen einen neuen Beſitz; und ſo entſteht die erſte eigentliche Auswanderung. Sie zeigt in ihrer Form ihren Urſprung. Die Auswandernden nehmen zuerſt die Idee der Geſchlechterordnung und daher auch des Zuſammenhangs mit der früheren Heimath mit ſich. Sie bilden in der Fremde wieder Ge- ſchlechterordnungen; und dieſe Niederlaſſungen ſind die erſten Colonien. Die Bedeutung der „Colonie“ iſt eine ganz ſpecifiſche; unter ihr ver- ſtehen wir immer eine Auswanderung, welche innerhalb der aufrecht erhaltenen Verbindung mit dem Mutterlande die geſellſchaftliche und ſtaatliche Ordnung deſſelben reproducirt; aber ſtets in freierer Form. Dieſe Bedeutung der Colonie hat ſich bis auf unſere Zeit erhalten, und mit Recht fühlt daher auch Roſcher in ſeinem oben angeführten Werke, daß man zwiſchen der Auswanderung und Coloniſation einen weſentlichen Unter- ſchied machen müſſe, ohne zu erkennen, worauf derſelbe eigentlich beruht. Die Colonien der alten Welt nun theilen ſich gleich anfangs in zwei Grund- formen, welche in der griechiſchen und römiſchen Welt zur Erſcheinung ge- langen. Die erſte Grundform iſt die Handelscolonie, die zur Zeit der Phönizier, Karthager, Athenienſer, wie in der unmittelbaren Gegen- wart von Hamburg und Bremen aus ſtets von den jüngeren Söhnen namentlich der Mittelclaſſe bevölkert werden, denen in der Heimath der Raum zu eng iſt. Die zweite Grundform iſt die der Militärcolo- nien, welche den ihnen in der Heimath fehlenden Beſitz nicht durch Handel und Gewerbe, ſondern durch Eroberung von Grund und Boden gewinnen wollen. Auch bei den Mititärcolonien iſt der Grund der Auswanderung ſtets der Mangel an Beſitz der mittleren und niederen Claſſe, und nur das Mißverſtändniß, das die Dinge nach der Form und nicht nach dem Inhalt behandelt, hat den innern Zuſammenhang überſehen, und in Militär- oder Eroberungscolonien und Handelscolo- nien etwas weſentlich Verſchiedenes ſehen, überhaupt die Colonie nach ihrer äußeren Form und nicht nach ihrem Grunde eintheilen wollen (Roſcher, Colonien, S. 1 ff.). Das Weſen und die Bedeutung der römiſchen Colonien und ihren agrariſchen Zuſammenhang mit den ſocialen Zuſtänden und den organiſchen Geſetzen hat am beſten Napo- leon III. in ſeinem Leben Cäſars dargeſtellt. Roſchers Anſicht („um mehr Kriegsmannſchaft heranwachſen zu laſſen,“ S. 11) iſt für jedes höhere Verſtändniß faſt unbegreiflich. Dieſe Form der Colonien

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/209>, abgerufen am 24.04.2024.