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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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in Wesen und Inhalt der Rechtsphilosophie. Während dieselbe natur-
gemäß in der vorhergehenden Epoche im Grunde kaum etwas anderes
war als eine rationelle Verwaltungslehre, ist sie jetzt in das Gegentheil
umgeschlagen. Sie ist zu einem ganz abstrakten philosophischen System
geworden, das sich als letztes und höchstes Ziel die Aufgabe stellt, den
reinen Begriff von Staat und Recht zu entwickeln. Dieser Idee
erscheinen alle andern Punkte als untergeordnet; aber indem sie sich
mit dem nicht mehr beschäftigt, was die Rechtspflege oder die innere
Verwaltung von ihr fordert, wird sie dadurch im gewöhnlichen Sinne
des Wortes "unpraktisch." Sie hat eine große, gewaltige Bedeutung;
aber ihre Bedeutung ist eine begränzte. Ihr Auftreten in dem Gange
der Entwicklung, den wir gezeigt, ist zwar ein ganz natürliches, aber
ihre Herrschaft kann keine bleibende sein. Sie hat tiefe Spuren im
deutschen Geiste hinterlassen; aber erfüllen konnte sie ihn auf die Dauer
nicht. Denn wenn die Idee des Rechtsstaats durch sie für diejenigen
wohl begründet ward, die über denselben philosophirten, so löste sie
keineswegs alle Fragen und Widersprüche in diesem Rechtsstaat für die,
welche in ihm leben sollten. Hier entstand daher eine neue Bewegung
und eine dritte Gestalt der letzteren.

Gerade dadurch nämlich, daß die höhere Wissenschaft jetzt bei den
abstrakten Fragen stehen blieb, ward sie denen theils entfremdet, theils
überflüssig, die nun im wirklichen Leben mit dem Staate zu thun, sich
ihm zu unterwerfen, ihre Freiheit von ihm beschränken zu lassen hatten.
Denen half der "Begriff" sehr wenig. Der wirkliche Staat und seine
Vertreter acceptirten zwar das "Recht" als Grundlage ihrer Berechti-
gung; aber das Recht war eben unbestimmt, unfertig, bestritten. Die
neue Staatsgewalt, bis dahin nur in einem sehr kleinen Theile Deutsch-
lands von einer Volsvertretung umgeben, zögerte daher keinen Augen-
blick, mit ihren Verordnungen und Verfügungen in das Gesammtleben
einzugreifen, und auf diese Weise einseitig und im Einzelnen ein posi-
tives öffentliches Recht zu bilden, das in Inhalt und Richtung gar
wenig Beziehungen zum "Begriff des Staats" hatte, und dessen Grund-
lage, wie es in dieser Epoche der Staatenbildung sehr natürlich war,
die zum Theil ganz rücksichtslose Unterwerfung des Einzelnen unter den
Staatswillen zur Folge hatte. Der alte Polizeistaat ging daher trotz
der neuen Rechtsphilosophie keinesweges unter; er lebte in viel größeren,
ernstern Verhältnissen auf, und läßt jetzt die Unb[e]quemlichkeiten, die er
für den Einzelnen mit sich bringt, in dem Gefühle der Gefährdung viel
höherer und mächtigerer Interessen zurücktreten. Der Unterschied dieser
Epoche von der des vorigen Jahrhunderts lag wesentlich nur darin, daß
die Staatsgewalt sich nicht mehr so sehr in die kleinen, rein individuellen

in Weſen und Inhalt der Rechtsphiloſophie. Während dieſelbe natur-
gemäß in der vorhergehenden Epoche im Grunde kaum etwas anderes
war als eine rationelle Verwaltungslehre, iſt ſie jetzt in das Gegentheil
umgeſchlagen. Sie iſt zu einem ganz abſtrakten philoſophiſchen Syſtem
geworden, das ſich als letztes und höchſtes Ziel die Aufgabe ſtellt, den
reinen Begriff von Staat und Recht zu entwickeln. Dieſer Idee
erſcheinen alle andern Punkte als untergeordnet; aber indem ſie ſich
mit dem nicht mehr beſchäftigt, was die Rechtspflege oder die innere
Verwaltung von ihr fordert, wird ſie dadurch im gewöhnlichen Sinne
des Wortes „unpraktiſch.“ Sie hat eine große, gewaltige Bedeutung;
aber ihre Bedeutung iſt eine begränzte. Ihr Auftreten in dem Gange
der Entwicklung, den wir gezeigt, iſt zwar ein ganz natürliches, aber
ihre Herrſchaft kann keine bleibende ſein. Sie hat tiefe Spuren im
deutſchen Geiſte hinterlaſſen; aber erfüllen konnte ſie ihn auf die Dauer
nicht. Denn wenn die Idee des Rechtsſtaats durch ſie für diejenigen
wohl begründet ward, die über denſelben philoſophirten, ſo löste ſie
keineswegs alle Fragen und Widerſprüche in dieſem Rechtsſtaat für die,
welche in ihm leben ſollten. Hier entſtand daher eine neue Bewegung
und eine dritte Geſtalt der letzteren.

Gerade dadurch nämlich, daß die höhere Wiſſenſchaft jetzt bei den
abſtrakten Fragen ſtehen blieb, ward ſie denen theils entfremdet, theils
überflüſſig, die nun im wirklichen Leben mit dem Staate zu thun, ſich
ihm zu unterwerfen, ihre Freiheit von ihm beſchränken zu laſſen hatten.
Denen half der „Begriff“ ſehr wenig. Der wirkliche Staat und ſeine
Vertreter acceptirten zwar das „Recht“ als Grundlage ihrer Berechti-
gung; aber das Recht war eben unbeſtimmt, unfertig, beſtritten. Die
neue Staatsgewalt, bis dahin nur in einem ſehr kleinen Theile Deutſch-
lands von einer Volsvertretung umgeben, zögerte daher keinen Augen-
blick, mit ihren Verordnungen und Verfügungen in das Geſammtleben
einzugreifen, und auf dieſe Weiſe einſeitig und im Einzelnen ein poſi-
tives öffentliches Recht zu bilden, das in Inhalt und Richtung gar
wenig Beziehungen zum „Begriff des Staats“ hatte, und deſſen Grund-
lage, wie es in dieſer Epoche der Staatenbildung ſehr natürlich war,
die zum Theil ganz rückſichtsloſe Unterwerfung des Einzelnen unter den
Staatswillen zur Folge hatte. Der alte Polizeiſtaat ging daher trotz
der neuen Rechtsphiloſophie keinesweges unter; er lebte in viel größeren,
ernſtern Verhältniſſen auf, und läßt jetzt die Unb[e]quemlichkeiten, die er
für den Einzelnen mit ſich bringt, in dem Gefühle der Gefährdung viel
höherer und mächtigerer Intereſſen zurücktreten. Der Unterſchied dieſer
Epoche von der des vorigen Jahrhunderts lag weſentlich nur darin, daß
die Staatsgewalt ſich nicht mehr ſo ſehr in die kleinen, rein individuellen

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[27/0049] in Weſen und Inhalt der Rechtsphiloſophie. Während dieſelbe natur- gemäß in der vorhergehenden Epoche im Grunde kaum etwas anderes war als eine rationelle Verwaltungslehre, iſt ſie jetzt in das Gegentheil umgeſchlagen. Sie iſt zu einem ganz abſtrakten philoſophiſchen Syſtem geworden, das ſich als letztes und höchſtes Ziel die Aufgabe ſtellt, den reinen Begriff von Staat und Recht zu entwickeln. Dieſer Idee erſcheinen alle andern Punkte als untergeordnet; aber indem ſie ſich mit dem nicht mehr beſchäftigt, was die Rechtspflege oder die innere Verwaltung von ihr fordert, wird ſie dadurch im gewöhnlichen Sinne des Wortes „unpraktiſch.“ Sie hat eine große, gewaltige Bedeutung; aber ihre Bedeutung iſt eine begränzte. Ihr Auftreten in dem Gange der Entwicklung, den wir gezeigt, iſt zwar ein ganz natürliches, aber ihre Herrſchaft kann keine bleibende ſein. Sie hat tiefe Spuren im deutſchen Geiſte hinterlaſſen; aber erfüllen konnte ſie ihn auf die Dauer nicht. Denn wenn die Idee des Rechtsſtaats durch ſie für diejenigen wohl begründet ward, die über denſelben philoſophirten, ſo löste ſie keineswegs alle Fragen und Widerſprüche in dieſem Rechtsſtaat für die, welche in ihm leben ſollten. Hier entſtand daher eine neue Bewegung und eine dritte Geſtalt der letzteren. Gerade dadurch nämlich, daß die höhere Wiſſenſchaft jetzt bei den abſtrakten Fragen ſtehen blieb, ward ſie denen theils entfremdet, theils überflüſſig, die nun im wirklichen Leben mit dem Staate zu thun, ſich ihm zu unterwerfen, ihre Freiheit von ihm beſchränken zu laſſen hatten. Denen half der „Begriff“ ſehr wenig. Der wirkliche Staat und ſeine Vertreter acceptirten zwar das „Recht“ als Grundlage ihrer Berechti- gung; aber das Recht war eben unbeſtimmt, unfertig, beſtritten. Die neue Staatsgewalt, bis dahin nur in einem ſehr kleinen Theile Deutſch- lands von einer Volsvertretung umgeben, zögerte daher keinen Augen- blick, mit ihren Verordnungen und Verfügungen in das Geſammtleben einzugreifen, und auf dieſe Weiſe einſeitig und im Einzelnen ein poſi- tives öffentliches Recht zu bilden, das in Inhalt und Richtung gar wenig Beziehungen zum „Begriff des Staats“ hatte, und deſſen Grund- lage, wie es in dieſer Epoche der Staatenbildung ſehr natürlich war, die zum Theil ganz rückſichtsloſe Unterwerfung des Einzelnen unter den Staatswillen zur Folge hatte. Der alte Polizeiſtaat ging daher trotz der neuen Rechtsphiloſophie keinesweges unter; er lebte in viel größeren, ernſtern Verhältniſſen auf, und läßt jetzt die Unbequemlichkeiten, die er für den Einzelnen mit ſich bringt, in dem Gefühle der Gefährdung viel höherer und mächtigerer Intereſſen zurücktreten. Der Unterſchied dieſer Epoche von der des vorigen Jahrhunderts lag weſentlich nur darin, daß die Staatsgewalt ſich nicht mehr ſo ſehr in die kleinen, rein individuellen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/49>, abgerufen am 19.04.2024.