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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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wie ein Küken gesund umherliefe, aber es blutet und schwebt in Gefahr, da es
ja nicht einmal abgebunden wird. Die Sache ist gar nicht so seltsam, wenn die
Mutter nur als Brutmaschine aufgefasst wird. Schon während der Schwanger-
schaft
(vgl. Ploss, Das Kind, II. Kap., 7) fastet der Vater vielfach und ver-
meidet schwere Arbeit, um dem Kinde nicht zu schaden. Aber nach der Geburt
fühlt er sich mindestens bis zu dem Augenblick, dass der Rest der Nabelschnur
abfällt, noch in thatsächlichem "Zusammenhang" mit dem Kinde, und mindestens
während der Tage, dass das Leben des kleinen Vaters sichtbarlich gefährdet er-
scheint, muss Diät eingehalten und nichts gegessen werden, was der eine Teil
nicht vertragen kann
. Es ist auch durchaus nicht unumgänglich notwendig,
dass die Entbindung im Beisein des Vaters stattfindet, damit er zum Fasten ge-
zwungen werde, und so kann das Bedürfnis seiner Anwesenheit auch nicht der letzte
Grund der Sitte sein. Wie zitiert, holten die Inselkaraiben ihre Couvade noch einen
Monat später nach. Bei den Ipurina am Purus kommt die Frau, von einigen
älteren Weibern unterstützt, in einer Waldhütte nieder und kehrt erst "vier oder
fünf Tage später" zu dem Manne zurück, der jetzt erst das Kind sehen darf und
während dieser Zeit strenge Diät halten musste". Noch ein ganzes Jahr lang
darf der Mann weder Schweine- noch Tapirfleisch geniessen. Ehrenreich, der
dies berichtet, fügt hinzu: "ein wirkliches ,Männerkindbett' ist nicht üblich."
Nun, doch wohl nur insoweit nicht, als der Vater nicht in der Hängematte zu
liegen braucht, was, wenn es nicht nur eine Nebenerscheinung ist, jedenfalls eine
der unwichtigsten Kurvorschriften ist. Dass falsche Nahrung für das Kind in
erster Linie schädlich ist, weiss auch der Indianer, und darum ist es das Wichtigste,
Diät zu halten. Alles Andere ist mehr oder minder nur Beiwerk. Entscheidend
ist endlich das Verhalten der Bororo. Die Mutter kommt im Walde nieder, und
der Vater, der niemals dabei ist, fastet nicht nur, er nimmt auch, wie wir von
dem darob hocherstaunten Apotheker der brasilischen Militärkolonie erfuhren,
wenn das Kind krank ist, die Medizin ein, die ihm für das Kind über-
geben wird.

Das Verhalten der Mutter kann, während alle Stämme für den Vater ein
gleiches Verfahren einschlagen, recht verschieden sein, je nachdem sie als mehr
oder minder leidend erachtet wird. Sie geht ihren Geschäften wieder nach, soweit
sie die Kraft fühlt, und säugt das Kind, aber damit ist es auch genug. Zwischen
Vater und Kind besteht keine mysteriöse Wechselbeziehung, das Kind ist eine
Vervielfachung von ihm, der Vater ist doppelt geworden und muss sich für die
unbehülfliche, unvernünftige Kreatur, die seine Miniaturausgabe darstellt, selbst wie
ein Kind verhalten, das nicht Schaden nehmen darf. Gesetzt das Kind stürbe
in den ersten Tagen, wie könnte der Vater, der von solcher Anschauung erfüllt
ist und schwer verdauliche Sachen gegessen hat, zumal alle Krankheit durch
Schuld eines Anderen
entsteht, zweifeln, dass er selbst die Schuld trage?
Was wir "pars pro toto" nennen, beherrscht den Volksglauben überall in Betreff
des Hexen- oder des Heilzaubers, obwohl ich nicht glaube, dass der Zaubernde

wie ein Küken gesund umherliefe, aber es blutet und schwebt in Gefahr, da es
ja nicht einmal abgebunden wird. Die Sache ist gar nicht so seltsam, wenn die
Mutter nur als Brutmaschine aufgefasst wird. Schon während der Schwanger-
schaft
(vgl. Ploss, Das Kind, II. Kap., 7) fastet der Vater vielfach und ver-
meidet schwere Arbeit, um dem Kinde nicht zu schaden. Aber nach der Geburt
fühlt er sich mindestens bis zu dem Augenblick, dass der Rest der Nabelschnur
abfällt, noch in thatsächlichem »Zusammenhang« mit dem Kinde, und mindestens
während der Tage, dass das Leben des kleinen Vaters sichtbarlich gefährdet er-
scheint, muss Diät eingehalten und nichts gegessen werden, was der eine Teil
nicht vertragen kann
. Es ist auch durchaus nicht unumgänglich notwendig,
dass die Entbindung im Beisein des Vaters stattfindet, damit er zum Fasten ge-
zwungen werde, und so kann das Bedürfnis seiner Anwesenheit auch nicht der letzte
Grund der Sitte sein. Wie zitiert, holten die Inselkaraiben ihre Couvade noch einen
Monat später nach. Bei den Ipurina am Purus kommt die Frau, von einigen
älteren Weibern unterstützt, in einer Waldhütte nieder und kehrt erst »vier oder
fünf Tage später« zu dem Manne zurück, der jetzt erst das Kind sehen darf und
während dieser Zeit strenge Diät halten musste«. Noch ein ganzes Jahr lang
darf der Mann weder Schweine- noch Tapirfleisch geniessen. Ehrenreich, der
dies berichtet, fügt hinzu: »ein wirkliches ‚Männerkindbett‘ ist nicht üblich.«
Nun, doch wohl nur insoweit nicht, als der Vater nicht in der Hängematte zu
liegen braucht, was, wenn es nicht nur eine Nebenerscheinung ist, jedenfalls eine
der unwichtigsten Kurvorschriften ist. Dass falsche Nahrung für das Kind in
erster Linie schädlich ist, weiss auch der Indianer, und darum ist es das Wichtigste,
Diät zu halten. Alles Andere ist mehr oder minder nur Beiwerk. Entscheidend
ist endlich das Verhalten der Bororó. Die Mutter kommt im Walde nieder, und
der Vater, der niemals dabei ist, fastet nicht nur, er nimmt auch, wie wir von
dem darob hocherstaunten Apotheker der brasilischen Militärkolonie erfuhren,
wenn das Kind krank ist, die Medizin ein, die ihm für das Kind über-
geben wird.

Das Verhalten der Mutter kann, während alle Stämme für den Vater ein
gleiches Verfahren einschlagen, recht verschieden sein, je nachdem sie als mehr
oder minder leidend erachtet wird. Sie geht ihren Geschäften wieder nach, soweit
sie die Kraft fühlt, und säugt das Kind, aber damit ist es auch genug. Zwischen
Vater und Kind besteht keine mysteriöse Wechselbeziehung, das Kind ist eine
Vervielfachung von ihm, der Vater ist doppelt geworden und muss sich für die
unbehülfliche, unvernünftige Kreatur, die seine Miniaturausgabe darstellt, selbst wie
ein Kind verhalten, das nicht Schaden nehmen darf. Gesetzt das Kind stürbe
in den ersten Tagen, wie könnte der Vater, der von solcher Anschauung erfüllt
ist und schwer verdauliche Sachen gegessen hat, zumal alle Krankheit durch
Schuld eines Anderen
entsteht, zweifeln, dass er selbst die Schuld trage?
Was wir »pars pro toto« nennen, beherrscht den Volksglauben überall in Betreff
des Hexen- oder des Heilzaubers, obwohl ich nicht glaube, dass der Zaubernde

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[338/0402] wie ein Küken gesund umherliefe, aber es blutet und schwebt in Gefahr, da es ja nicht einmal abgebunden wird. Die Sache ist gar nicht so seltsam, wenn die Mutter nur als Brutmaschine aufgefasst wird. Schon während der Schwanger- schaft (vgl. Ploss, Das Kind, II. Kap., 7) fastet der Vater vielfach und ver- meidet schwere Arbeit, um dem Kinde nicht zu schaden. Aber nach der Geburt fühlt er sich mindestens bis zu dem Augenblick, dass der Rest der Nabelschnur abfällt, noch in thatsächlichem »Zusammenhang« mit dem Kinde, und mindestens während der Tage, dass das Leben des kleinen Vaters sichtbarlich gefährdet er- scheint, muss Diät eingehalten und nichts gegessen werden, was der eine Teil nicht vertragen kann. Es ist auch durchaus nicht unumgänglich notwendig, dass die Entbindung im Beisein des Vaters stattfindet, damit er zum Fasten ge- zwungen werde, und so kann das Bedürfnis seiner Anwesenheit auch nicht der letzte Grund der Sitte sein. Wie zitiert, holten die Inselkaraiben ihre Couvade noch einen Monat später nach. Bei den Ipurina am Purus kommt die Frau, von einigen älteren Weibern unterstützt, in einer Waldhütte nieder und kehrt erst »vier oder fünf Tage später« zu dem Manne zurück, der jetzt erst das Kind sehen darf und während dieser Zeit strenge Diät halten musste«. Noch ein ganzes Jahr lang darf der Mann weder Schweine- noch Tapirfleisch geniessen. Ehrenreich, der dies berichtet, fügt hinzu: »ein wirkliches ‚Männerkindbett‘ ist nicht üblich.« Nun, doch wohl nur insoweit nicht, als der Vater nicht in der Hängematte zu liegen braucht, was, wenn es nicht nur eine Nebenerscheinung ist, jedenfalls eine der unwichtigsten Kurvorschriften ist. Dass falsche Nahrung für das Kind in erster Linie schädlich ist, weiss auch der Indianer, und darum ist es das Wichtigste, Diät zu halten. Alles Andere ist mehr oder minder nur Beiwerk. Entscheidend ist endlich das Verhalten der Bororó. Die Mutter kommt im Walde nieder, und der Vater, der niemals dabei ist, fastet nicht nur, er nimmt auch, wie wir von dem darob hocherstaunten Apotheker der brasilischen Militärkolonie erfuhren, wenn das Kind krank ist, die Medizin ein, die ihm für das Kind über- geben wird. Das Verhalten der Mutter kann, während alle Stämme für den Vater ein gleiches Verfahren einschlagen, recht verschieden sein, je nachdem sie als mehr oder minder leidend erachtet wird. Sie geht ihren Geschäften wieder nach, soweit sie die Kraft fühlt, und säugt das Kind, aber damit ist es auch genug. Zwischen Vater und Kind besteht keine mysteriöse Wechselbeziehung, das Kind ist eine Vervielfachung von ihm, der Vater ist doppelt geworden und muss sich für die unbehülfliche, unvernünftige Kreatur, die seine Miniaturausgabe darstellt, selbst wie ein Kind verhalten, das nicht Schaden nehmen darf. Gesetzt das Kind stürbe in den ersten Tagen, wie könnte der Vater, der von solcher Anschauung erfüllt ist und schwer verdauliche Sachen gegessen hat, zumal alle Krankheit durch Schuld eines Anderen entsteht, zweifeln, dass er selbst die Schuld trage? Was wir »pars pro toto« nennen, beherrscht den Volksglauben überall in Betreff des Hexen- oder des Heilzaubers, obwohl ich nicht glaube, dass der Zaubernde

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/402>, abgerufen am 24.04.2024.