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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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religiös sei. Und was wird heutiges Tages nicht Alles Re¬
ligion genannt? Die "Religion der Liebe", die "Religion der
Freiheit", die "politische Religion", kurz jeder Enthusiasmus.
So ist's auch in der That.

Noch heute brauchen Wir das welsche Wort "Religion",
welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebun¬
den bleiben Wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres
einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegentheil,
der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht Unser Geist, sondern
absolut. Darum wäre die richtige affirmative Uebersetzung des
Wortes Religion die -- "Geistesfreiheit"! Bei wem der
Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie
derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne
freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste.
Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung
auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den
Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel
es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit Uns
durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben;
daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusi¬
asmus für geistige Interessen, oder wie immer in den ver¬
schiedensten Wendungen dieß Juwel benannt werden mag,
Uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste
Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch
nicht merken, ohne bewußter Weise ein Egoist zu sein.

Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Un¬
sere Vernunft, Unser Herz u.s.w. auf Gott führe, haben
damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch besessen sind.
Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium
der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Gei¬

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religiös ſei. Und was wird heutiges Tages nicht Alles Re¬
ligion genannt? Die „Religion der Liebe“, die „Religion der
Freiheit“, die „politiſche Religion“, kurz jeder Enthuſiasmus.
So iſt's auch in der That.

Noch heute brauchen Wir das welſche Wort „Religion“,
welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebun¬
den bleiben Wir allerdings, ſoweit die Religion unſer Inneres
einnimmt; aber iſt auch der Geiſt gebunden? Im Gegentheil,
der iſt frei, iſt alleiniger Herr, iſt nicht Unſer Geiſt, ſondern
abſolut. Darum wäre die richtige affirmative Ueberſetzung des
Wortes Religion die — „Geiſtesfreiheit“! Bei wem der
Geiſt frei iſt, der iſt gerade in derſelben Weiſe religiös, wie
derjenige ein ſinnlicher Menſch heißt, bei welchem die Sinne
freien Lauf haben. Jenen bindet der Geiſt, dieſen die Lüſte.
Gebundenheit oder religio iſt alſo die Religion in Beziehung
auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den
Geiſt: der Geiſt iſt frei oder hat Geiſtesfreiheit. Wie übel
es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüſte mit Uns
durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben;
daß aber der freie Geiſt, die herrliche Geiſtigkeit, der Enthuſi¬
asmus für geiſtige Intereſſen, oder wie immer in den ver¬
ſchiedenſten Wendungen dieß Juwel benannt werden mag,
Uns noch ärger in die Klemme bringt, als ſelbſt die wildeſte
Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch
nicht merken, ohne bewußter Weiſe ein Egoiſt zu ſein.

Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Un¬
ſere Vernunft, Unſer Herz u.ſ.w. auf Gott führe, haben
damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch beſeſſen ſind.
Freilich ärgerten ſie die Theologen, denen ſie das Privilegium
der religiöſen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Gei¬

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[65/0073] religiös ſei. Und was wird heutiges Tages nicht Alles Re¬ ligion genannt? Die „Religion der Liebe“, die „Religion der Freiheit“, die „politiſche Religion“, kurz jeder Enthuſiasmus. So iſt's auch in der That. Noch heute brauchen Wir das welſche Wort „Religion“, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebun¬ den bleiben Wir allerdings, ſoweit die Religion unſer Inneres einnimmt; aber iſt auch der Geiſt gebunden? Im Gegentheil, der iſt frei, iſt alleiniger Herr, iſt nicht Unſer Geiſt, ſondern abſolut. Darum wäre die richtige affirmative Ueberſetzung des Wortes Religion die — „Geiſtesfreiheit“! Bei wem der Geiſt frei iſt, der iſt gerade in derſelben Weiſe religiös, wie derjenige ein ſinnlicher Menſch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geiſt, dieſen die Lüſte. Gebundenheit oder religio iſt alſo die Religion in Beziehung auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geiſt: der Geiſt iſt frei oder hat Geiſtesfreiheit. Wie übel es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüſte mit Uns durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geiſt, die herrliche Geiſtigkeit, der Enthuſi¬ asmus für geiſtige Intereſſen, oder wie immer in den ver¬ ſchiedenſten Wendungen dieß Juwel benannt werden mag, Uns noch ärger in die Klemme bringt, als ſelbſt die wildeſte Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußter Weiſe ein Egoiſt zu ſein. Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Un¬ ſere Vernunft, Unſer Herz u.ſ.w. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch beſeſſen ſind. Freilich ärgerten ſie die Theologen, denen ſie das Privilegium der religiöſen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Gei¬ 5

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/73>, abgerufen am 19.04.2024.