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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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stesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn
wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glau¬
ben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und
Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der
Form des Verstandes u. s. w., an den geistigen und himm¬
lischen Wahrheiten Theil nehmen darf, dann ist der ganze
Geist nur mit Geistigem, d. h. mit sich beschäftigt, also frei.
Jetzt sind Wir so durch und durch religiös, daß "Geschworne"
Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter
Christ durch "Amtseid" Uns ins Loch bringt.

Die Sittlichkeit konnte erst von da ab gegen die Fröm¬
migkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt der brausende
Haß wider alles, was einem "Befehle" (Ordonnance, Gebote
u. s. w.) ähnlich sah, sich revoltirend Luft machte, und der
persönliche "absolute Herr" verhöhnt und verfolgt wurde: sie
konnte folglich zur Selbstständigkeit erst durch den Liberalis¬
mus kommen, dessen erste Form als "Bürgerthum" sich welt¬
geschichtliche Bedeutung verschaffte, und die eigentlich religiösen
Gewalten schwächte (siehe unten "Liberalismus"). Denn das
Princip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden,
sondern auf eigenen Füßen stehenden Sittlichkeit liegt nicht
mehr in den göttlichen Geboten, sondern im Vernunftgesetze,
von welchem jene, so weit sie noch gültig bleiben sollen, zu
ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten müssen. Im
Vernunftgesetze bestimmt sich der Mensch aus sich selbst, denn
"der Mensch" ist vernünftig, und aus dem "Wesen des Men¬
schen" ergeben sich jene Gesetze mit Nothwendigkeit. Frömmig¬
keit und Sittlichkeit scheiden sich darin von einander, daß jene
Gott, diese den Menschen zum Gesetzgeber macht.

Von einem gewissen Standpunkte der Sittlichkeit aus rä¬

ſtesfreiheit eroberten ſie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn
wenn der Geiſt nicht länger auf das Gefühl oder den Glau¬
ben beſchränkt iſt, ſondern auch als Verſtand, Vernunft und
Denken überhaupt ſich, dem Geiſte, angehört, alſo auch in der
Form des Verſtandes u. ſ. w., an den geiſtigen und himm¬
liſchen Wahrheiten Theil nehmen darf, dann iſt der ganze
Geiſt nur mit Geiſtigem, d. h. mit ſich beſchäftigt, alſo frei.
Jetzt ſind Wir ſo durch und durch religiös, daß „Geſchworne“
Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter
Chriſt durch „Amtseid“ Uns ins Loch bringt.

Die Sittlichkeit konnte erſt von da ab gegen die Fröm¬
migkeit in einen Gegenſatz treten, wo überhaupt der brauſende
Haß wider alles, was einem „Befehle“ (Ordonnance, Gebote
u. ſ. w.) ähnlich ſah, ſich revoltirend Luft machte, und der
perſönliche „abſolute Herr“ verhöhnt und verfolgt wurde: ſie
konnte folglich zur Selbſtſtändigkeit erſt durch den Liberalis¬
mus kommen, deſſen erſte Form als „Bürgerthum“ ſich welt¬
geſchichtliche Bedeutung verſchaffte, und die eigentlich religiöſen
Gewalten ſchwächte (ſiehe unten „Liberalismus“). Denn das
Princip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden,
ſondern auf eigenen Füßen ſtehenden Sittlichkeit liegt nicht
mehr in den göttlichen Geboten, ſondern im Vernunftgeſetze,
von welchem jene, ſo weit ſie noch gültig bleiben ſollen, zu
ihrer Gültigkeit erſt die Berechtigung erwarten müſſen. Im
Vernunftgeſetze beſtimmt ſich der Menſch aus ſich ſelbſt, denn
„der Menſch“ iſt vernünftig, und aus dem „Weſen des Men¬
ſchen“ ergeben ſich jene Geſetze mit Nothwendigkeit. Frömmig¬
keit und Sittlichkeit ſcheiden ſich darin von einander, daß jene
Gott, dieſe den Menſchen zum Geſetzgeber macht.

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[66/0074] ſtesfreiheit eroberten ſie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geiſt nicht länger auf das Gefühl oder den Glau¬ ben beſchränkt iſt, ſondern auch als Verſtand, Vernunft und Denken überhaupt ſich, dem Geiſte, angehört, alſo auch in der Form des Verſtandes u. ſ. w., an den geiſtigen und himm¬ liſchen Wahrheiten Theil nehmen darf, dann iſt der ganze Geiſt nur mit Geiſtigem, d. h. mit ſich beſchäftigt, alſo frei. Jetzt ſind Wir ſo durch und durch religiös, daß „Geſchworne“ Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Chriſt durch „Amtseid“ Uns ins Loch bringt. Die Sittlichkeit konnte erſt von da ab gegen die Fröm¬ migkeit in einen Gegenſatz treten, wo überhaupt der brauſende Haß wider alles, was einem „Befehle“ (Ordonnance, Gebote u. ſ. w.) ähnlich ſah, ſich revoltirend Luft machte, und der perſönliche „abſolute Herr“ verhöhnt und verfolgt wurde: ſie konnte folglich zur Selbſtſtändigkeit erſt durch den Liberalis¬ mus kommen, deſſen erſte Form als „Bürgerthum“ ſich welt¬ geſchichtliche Bedeutung verſchaffte, und die eigentlich religiöſen Gewalten ſchwächte (ſiehe unten „Liberalismus“). Denn das Princip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, ſondern auf eigenen Füßen ſtehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten, ſondern im Vernunftgeſetze, von welchem jene, ſo weit ſie noch gültig bleiben ſollen, zu ihrer Gültigkeit erſt die Berechtigung erwarten müſſen. Im Vernunftgeſetze beſtimmt ſich der Menſch aus ſich ſelbſt, denn „der Menſch“ iſt vernünftig, und aus dem „Weſen des Men¬ ſchen“ ergeben ſich jene Geſetze mit Nothwendigkeit. Frömmig¬ keit und Sittlichkeit ſcheiden ſich darin von einander, daß jene Gott, dieſe den Menſchen zum Geſetzgeber macht. Von einem gewiſſen Standpunkte der Sittlichkeit aus rä¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/74>, abgerufen am 25.04.2024.