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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794.

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Anstalten für die kranke und leidende Menschheit.
Wem dieser Uebergang auffällt, der kennt die
Verkettung der Extreme und die wunderbare
Mischung von Licht und Schatten in der mora-
lischen Welt nicht. Kein gewisseres Kennzei-
chen der Armuth -- als Luxus; beyde sind
durch unauflösliche Bande verbunden. Die
Verfeinerung und zunehmende Kultur unserer
Zeiten treibt alle Völker zu beyden Extremen
hinan, und die goldne Mittelstraße ist das
Problem der Staatswirthe, wie die Quadra-
tur des Zirkels das Problem der Mathemati-
ker ist; beyde werden immer gesucht und nie-
mals gefunden.

So gewiß ohne räsonnirte Theorie keine
zweckmäßige Ausübung statt findet, so wahr
ist es auch, daß Theorien Ideale sind, und
daß kein Ideal, als solches, Wirklichkeit er-
halten kann. Der Umriß des Ideals ist die
Grenzlinie der Vollkommenheit; in der wirk-
lichen Welt ist es die Linie auf welcher sich
Mängel und Vollkommenheiten im Gleichge-
wichte begegnen, und das Resultat der voll-
kommensten dieser Kombinationen ist -- ein
leidlicher Zustand.


Q 5

Anſtalten fuͤr die kranke und leidende Menſchheit.
Wem dieſer Uebergang auffaͤllt, der kennt die
Verkettung der Extreme und die wunderbare
Miſchung von Licht und Schatten in der mora-
liſchen Welt nicht. Kein gewiſſeres Kennzei-
chen der Armuth — als Luxus; beyde ſind
durch unaufloͤsliche Bande verbunden. Die
Verfeinerung und zunehmende Kultur unſerer
Zeiten treibt alle Voͤlker zu beyden Extremen
hinan, und die goldne Mittelſtraße iſt das
Problem der Staatswirthe, wie die Quadra-
tur des Zirkels das Problem der Mathemati-
ker iſt; beyde werden immer geſucht und nie-
mals gefunden.

So gewiß ohne raͤſonnirte Theorie keine
zweckmaͤßige Ausuͤbung ſtatt findet, ſo wahr
iſt es auch, daß Theorien Ideale ſind, und
daß kein Ideal, als ſolches, Wirklichkeit er-
halten kann. Der Umriß des Ideals iſt die
Grenzlinie der Vollkommenheit; in der wirk-
lichen Welt iſt es die Linie auf welcher ſich
Maͤngel und Vollkommenheiten im Gleichge-
wichte begegnen, und das Reſultat der voll-
kommenſten dieſer Kombinationen iſt — ein
leidlicher Zuſtand.


Q 5
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[249/0285] Anſtalten fuͤr die kranke und leidende Menſchheit. Wem dieſer Uebergang auffaͤllt, der kennt die Verkettung der Extreme und die wunderbare Miſchung von Licht und Schatten in der mora- liſchen Welt nicht. Kein gewiſſeres Kennzei- chen der Armuth — als Luxus; beyde ſind durch unaufloͤsliche Bande verbunden. Die Verfeinerung und zunehmende Kultur unſerer Zeiten treibt alle Voͤlker zu beyden Extremen hinan, und die goldne Mittelſtraße iſt das Problem der Staatswirthe, wie die Quadra- tur des Zirkels das Problem der Mathemati- ker iſt; beyde werden immer geſucht und nie- mals gefunden. So gewiß ohne raͤſonnirte Theorie keine zweckmaͤßige Ausuͤbung ſtatt findet, ſo wahr iſt es auch, daß Theorien Ideale ſind, und daß kein Ideal, als ſolches, Wirklichkeit er- halten kann. Der Umriß des Ideals iſt die Grenzlinie der Vollkommenheit; in der wirk- lichen Welt iſt es die Linie auf welcher ſich Maͤngel und Vollkommenheiten im Gleichge- wichte begegnen, und das Reſultat der voll- kommenſten dieſer Kombinationen iſt — ein leidlicher Zuſtand. Q 5

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg01_1794/285>, abgerufen am 28.03.2024.