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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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Hange zum sinnlichen Genuß zuweilen macht,
empört nicht selten das Gefühl, wenn man zu-
fälliger Weise Augenzeuge davon wird; aber
er hat mich nie bewegen können, diese Zu-
fluchtsörter der gedrücktesten und geplagtesten
Volksklasse zu verdammen. Wer hat das
Herz, diesen armen Menschen, die zur Ent-
schädigung für alle die unzähligen Mühselig-
keiten ihres Daseyns nur den Branntewein,
als das einzige Mittel, kennen, ihrer auf einen
Augenblick zu vergessen -- wer hat das Herz,
ihnen diese Täuschung zu rauben, ohne ihnen
eine bessere unterzuschieben? Ich übergehe
hier die Gründe, die man aus dem Klima, der
harten Lebensart, der ärmlichen Kost und den
strengen Fasten des russischen Volks herneh-
men könnte, um den Gebrauch dieses Nepen-
the zu vertheidigen, und appellire nur an die
Menschlichkeit meiner Leser, um ein schonendes
Urtheil über die grellen Tinten dieser Karakte-
ristik zu erhalten. Weit entfernt die allge-
meine Schädlichkeit und die oft sehr schreckli-
chen Folgen des Hanges zur Trunkenheit mil-
dern oder beschönigen zu wollen, ist es viel-
mehr der innigste Wunsch meines Herzens,

daß

Hange zum ſinnlichen Genuß zuweilen macht,
empoͤrt nicht ſelten das Gefuͤhl, wenn man zu-
faͤlliger Weiſe Augenzeuge davon wird; aber
er hat mich nie bewegen koͤnnen, dieſe Zu-
fluchtsoͤrter der gedruͤckteſten und geplagteſten
Volksklaſſe zu verdammen. Wer hat das
Herz, dieſen armen Menſchen, die zur Ent-
ſchaͤdigung fuͤr alle die unzaͤhligen Muͤhſelig-
keiten ihres Daſeyns nur den Branntewein,
als das einzige Mittel, kennen, ihrer auf einen
Augenblick zu vergeſſen — wer hat das Herz,
ihnen dieſe Taͤuſchung zu rauben, ohne ihnen
eine beſſere unterzuſchieben? Ich uͤbergehe
hier die Gruͤnde, die man aus dem Klima, der
harten Lebensart, der aͤrmlichen Koſt und den
ſtrengen Faſten des ruſſiſchen Volks herneh-
men koͤnnte, um den Gebrauch dieſes Nepen-
the zu vertheidigen, und appellire nur an die
Menſchlichkeit meiner Leſer, um ein ſchonendes
Urtheil uͤber die grellen Tinten dieſer Karakte-
riſtik zu erhalten. Weit entfernt die allge-
meine Schaͤdlichkeit und die oft ſehr ſchreckli-
chen Folgen des Hanges zur Trunkenheit mil-
dern oder beſchoͤnigen zu wollen, iſt es viel-
mehr der innigſte Wunſch meines Herzens,

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[272/0288] Hange zum ſinnlichen Genuß zuweilen macht, empoͤrt nicht ſelten das Gefuͤhl, wenn man zu- faͤlliger Weiſe Augenzeuge davon wird; aber er hat mich nie bewegen koͤnnen, dieſe Zu- fluchtsoͤrter der gedruͤckteſten und geplagteſten Volksklaſſe zu verdammen. Wer hat das Herz, dieſen armen Menſchen, die zur Ent- ſchaͤdigung fuͤr alle die unzaͤhligen Muͤhſelig- keiten ihres Daſeyns nur den Branntewein, als das einzige Mittel, kennen, ihrer auf einen Augenblick zu vergeſſen — wer hat das Herz, ihnen dieſe Taͤuſchung zu rauben, ohne ihnen eine beſſere unterzuſchieben? Ich uͤbergehe hier die Gruͤnde, die man aus dem Klima, der harten Lebensart, der aͤrmlichen Koſt und den ſtrengen Faſten des ruſſiſchen Volks herneh- men koͤnnte, um den Gebrauch dieſes Nepen- the zu vertheidigen, und appellire nur an die Menſchlichkeit meiner Leſer, um ein ſchonendes Urtheil uͤber die grellen Tinten dieſer Karakte- riſtik zu erhalten. Weit entfernt die allge- meine Schaͤdlichkeit und die oft ſehr ſchreckli- chen Folgen des Hanges zur Trunkenheit mil- dern oder beſchoͤnigen zu wollen, iſt es viel- mehr der innigſte Wunſch meines Herzens, daß

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/288>, abgerufen am 25.04.2024.