nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalsten Poli- tik doch nie, den Landmann durch Unterdrückung bis zur gefühllosen Geduld des Viehes zu erniedrigen. Der Unterdrückte behält doch das Gefühl des Unrechts, das er leiden muß, wird tückisch, faul, und verab- scheut eine Arbeit, die nur seinem Unterdrücker zu gu- te kommen würde. Hingegen eine natürliche mit Freyheit verbundene Noth, die daher rühret, daß das Schicksal mehr Menschen an einen Ort zusammen- gebracht hat, als das wenige Land ernähren kann; diese Noth reizet sie, Leibes- und Gemüthskräfte an- zustrengen, um sich so gut, als möglich ist, zu helfen.
Jch kam um 11 Uhr in Sospello an, und rei- sete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem sah, daß die erste halbe Stunde des Weges sich durch das enge Thal allmählig gegen den Berg hinzog, den ich zu übersteigen hatte, so nahm ich mir vor, dieses Stück des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa- ziergang war sehr angenehm. Der Weg geht, wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein Thal unmerklich in die Höhe. Zu beyden Seiten des- selben ist etwas angebautes Land, das zum Theil mit Weinreben bepflanzt ist, zum Theil Ackerland und Wiesen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei- ter und klarer Bach, der artig über die darin liegen- den Steine herabrieselt. Dieses schmale Thal ist et- wa eine Stunde lang, und steiget allmählig gegen ei- nen im Grunde desselben stehenden hohen Berg heran, über den man nun weg muß. Dieses ist der Colle di Brois. Am Fuße ist er angebaut und reichlich mit Olivenbäumen besetzt. Der Weg geht auch über diesen Berg im Zikzak hin und her, wie über den
vor-
Tagebuch von der Ruͤckreiſe
nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalſten Poli- tik doch nie, den Landmann durch Unterdruͤckung bis zur gefuͤhlloſen Geduld des Viehes zu erniedrigen. Der Unterdruͤckte behaͤlt doch das Gefuͤhl des Unrechts, das er leiden muß, wird tuͤckiſch, faul, und verab- ſcheut eine Arbeit, die nur ſeinem Unterdruͤcker zu gu- te kommen wuͤrde. Hingegen eine natuͤrliche mit Freyheit verbundene Noth, die daher ruͤhret, daß das Schickſal mehr Menſchen an einen Ort zuſammen- gebracht hat, als das wenige Land ernaͤhren kann; dieſe Noth reizet ſie, Leibes- und Gemuͤthskraͤfte an- zuſtrengen, um ſich ſo gut, als moͤglich iſt, zu helfen.
Jch kam um 11 Uhr in Soſpello an, und rei- ſete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem ſah, daß die erſte halbe Stunde des Weges ſich durch das enge Thal allmaͤhlig gegen den Berg hinzog, den ich zu uͤberſteigen hatte, ſo nahm ich mir vor, dieſes Stuͤck des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa- ziergang war ſehr angenehm. Der Weg geht, wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein Thal unmerklich in die Hoͤhe. Zu beyden Seiten deſ- ſelben iſt etwas angebautes Land, das zum Theil mit Weinreben bepflanzt iſt, zum Theil Ackerland und Wieſen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei- ter und klarer Bach, der artig uͤber die darin liegen- den Steine herabrieſelt. Dieſes ſchmale Thal iſt et- wa eine Stunde lang, und ſteiget allmaͤhlig gegen ei- nen im Grunde deſſelben ſtehenden hohen Berg heran, uͤber den man nun weg muß. Dieſes iſt der Colle di Brois. Am Fuße iſt er angebaut und reichlich mit Olivenbaͤumen beſetzt. Der Weg geht auch uͤber dieſen Berg im Zikzak hin und her, wie uͤber den
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Tagebuch von der Ruͤckreiſe
nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalſten Poli-
tik doch nie, den Landmann durch Unterdruͤckung bis
zur gefuͤhlloſen Geduld des Viehes zu erniedrigen.
Der Unterdruͤckte behaͤlt doch das Gefuͤhl des Unrechts,
das er leiden muß, wird tuͤckiſch, faul, und verab-
ſcheut eine Arbeit, die nur ſeinem Unterdruͤcker zu gu-
te kommen wuͤrde. Hingegen eine natuͤrliche mit
Freyheit verbundene Noth, die daher ruͤhret, daß
das Schickſal mehr Menſchen an einen Ort zuſammen-
gebracht hat, als das wenige Land ernaͤhren kann;
dieſe Noth reizet ſie, Leibes- und Gemuͤthskraͤfte an-
zuſtrengen, um ſich ſo gut, als moͤglich iſt, zu helfen.
Jch kam um 11 Uhr in Soſpello an, und rei-
ſete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem ſah,
daß die erſte halbe Stunde des Weges ſich durch das
enge Thal allmaͤhlig gegen den Berg hinzog, den ich
zu uͤberſteigen hatte, ſo nahm ich mir vor, dieſes
Stuͤck des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa-
ziergang war ſehr angenehm. Der Weg geht,
wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein
Thal unmerklich in die Hoͤhe. Zu beyden Seiten deſ-
ſelben iſt etwas angebautes Land, das zum Theil mit
Weinreben bepflanzt iſt, zum Theil Ackerland und
Wieſen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei-
ter und klarer Bach, der artig uͤber die darin liegen-
den Steine herabrieſelt. Dieſes ſchmale Thal iſt et-
wa eine Stunde lang, und ſteiget allmaͤhlig gegen ei-
nen im Grunde deſſelben ſtehenden hohen Berg heran,
uͤber den man nun weg muß. Dieſes iſt der Colle
di Brois. Am Fuße iſt er angebaut und reichlich
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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/288>, abgerufen am 10.02.2025.
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