Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

[Spaltenumbruch]

Ope
sehr mannigfaltige Weise behandelt werden, ohne
in das Unnatürliche und Ungereimte zu verfallen,
das unsere Oper so abentheuerlich macht. Bey Wie-
derlegung des Einwurfes, daß es überhaupt unna-
türlich sey Menschen bey einer ernsthaften Handlung
durchaus singend einzuführen, wollen wir uns nicht
aufhalten. Wir wollen gestehen, daß man einem
Menschen, der nie eine gute Oper gesehen hat, durch
richtige Vernunftschlüße beweisen könne, dieses Schau-
spiehl sey durchaus unnatürlich; aber der größte
Vernünftler, der eine der besteu Graunischen, oder
Haßischen Opern von guten Sängern vorgetragen
gehört hat, wird gestehen, daß die Empfindung
nicht von Vernunftschlüßen abhängt. So unge-
reimt die Oper scheinet, wenn man blos die kahlen
Begriffe, die der Verstand sich davon macht, ent-
wikelt, so einnehmend ist sie, wenn man auch nur
eine recht gute Scene davon gesehen hat.

Da wir den Dichter für die Hauptperson halten,
um die Oper zu einem guten Schauspiehl zu ma-
chen, so werden wir über das andere, was dazu ge-
hört kürzer seyn. Denn wir haben Proben genug
vor uns, daß die Musik, wenn sie nur gut geleitet
wird, das Jhrige bey der Sache sehr gut zu thun,
vollkommen genug ist. Wir wissen, daß Händel,
Graun und Haße, um blos der Unsrigen zu erwäh-
nen, die gewiß keinem Welschen Tonsezer weichen
dürfen, jeden Ton der Empfindung zu treffen, und
jede Leidenschaft zu schildern gewußt haben. Wir
dürfen also, da doch das Genie nicht von Unterricht
abhängt, nur die Tonsezer von Genie vermahnen,
ihre Kunst auf die Art, wie diese Männer gethan
haben, zu studiren; hiernächst aber sie vor einigen
Fehltritten warnen, die selbst diese große Männer,
durch die Mode verleitet, gethan haben.

Daß überhaupt der Gesang in den Opern über-
trieben und bis zur Ausschweiffung gekünstelt sey,
kann dünkt mich auch von dem wärmesten Liebha-
ber des künstlichen Gesanges nicht geläugnet wer-
werden. Das Angenehme und Süße herrscht darin
so sehr, daß die Kraft des Ausdruks gar zu ofte da-
durch verdunkelt wird. Hier ist noch nicht die Rede
von den langen Läufen, sondern von den übertrie-
benen Ausziehrungen einzeler Töne, wodurch gar
ofte anstatt eines, oder zweyer Töne vier, sechs auch
wol gar acht auf eine einzige Sylbe kommen. Die-
ses ist offenbar ein Mißbrauch, der durch die unbe-
sonnene Begierde der Sänger überall künstlich und
[Spaltenumbruch]

Ope
schön zu thun, Veränderungen anzubringen, und
eine rare Beugsamkeit der Kehle zu zeigen, in die
Arien eingeführt worden ist. Nachdem man ge-
merkt, daß der Vortrag des Gesanges Nachdruk
und Leben bekomme, wenn die Töne nicht steif und
durchaus monotonisch angegeben, sondern bald sanft
geschleift, bald etwas gezogen und schwebend, bald
mit einem sanften Vorschlag, oder Nachschlag ange-
geben würden; so trieben die Sänger ohne Ge-
schmak die Sach allmählig bis zum Mißbrauch,
und verwandelten bald jeden Ton in mehrere. Die
Tonsezer mögen bemerkt haben, daß dieses nicht alle-
mal geschikt, noch mit der Harmonie passend ge-
schehe. Dieses brachte sie vermuthlich auf den Ge-
danken die ausziehrenden Töne und Manieren dem
Sänger vorzuschreiben; und dadurch vermehrte sich
die Anzahl der auf einen Takt gehenden Töne. Nun
fiengen die Sänger aufs neue an, willkührliche Aus-
ziehrungstöne hinzuzuthun, und auch darin gaben
die Tonsezer nach, und schrieben ihnen noch mehr
vor, bis die izt gewöhnliche und noch immer mehr
zunehmende Verbrämung daraus entstund, wodurch
die Sylben und ganze Worte unverständlich, der
Gesang selbst aber in eine Jnstrumentalstimme ver-
wandelt worden.

Es ist sehr zu wünschen, daß dieser Mißbrauch
wieder eingestellt, und der Gesang auf mehr Ein-
falt gebracht, seine vorzügliche Kraft aber in wah-
rem Ausdruk der Empfindung und nicht in Zierlich-
keit und künstlichen Tongruppen gesucht werde.
Jn Stüken von blos lieblichem Jnhalt, wo die Em-
pfindung würklich etwas wollüstiges hat, können
solche Verbrämungen statt haben; aber in ernsthaf-
ten, pathetischen Sachen sind sie größtentheils un-
gereimt, so lieblich sie auch das Gehör küzeln. Hän-
del war darin noch mäßig, aber unser sonst so für-
trefliche Graun, hat sich von dem Strohm des Vor-
urtheils zu sehr hinreissen lassen.

Ein eben so großer Mißbrauch sind die so sehr
häufigen Läufe, oder sogenannten Rouladen, die
in jeder Arie an mehrern Stellen und oft auf jedem
schiklichen Vocal vorkommen; so daß Unwissende
leicht auf die Gedanken gerathen, daß sie die Haupt-
sach in der Arie ausmachen. Man sieht in der That
in dem Opern ofte, daß die Zuhörer nicht eher auf-
merksam werden, bis der Sänger an die Läufe
kommt, wo er bald das Gurgeln der Taube, bald
das Gezwitscher der Lerche, bald das Ziehen und

Schla-

[Spaltenumbruch]

Ope
ſehr mannigfaltige Weiſe behandelt werden, ohne
in das Unnatuͤrliche und Ungereimte zu verfallen,
das unſere Oper ſo abentheuerlich macht. Bey Wie-
derlegung des Einwurfes, daß es uͤberhaupt unna-
tuͤrlich ſey Menſchen bey einer ernſthaften Handlung
durchaus ſingend einzufuͤhren, wollen wir uns nicht
aufhalten. Wir wollen geſtehen, daß man einem
Menſchen, der nie eine gute Oper geſehen hat, durch
richtige Vernunftſchluͤße beweiſen koͤnne, dieſes Schau-
ſpiehl ſey durchaus unnatuͤrlich; aber der groͤßte
Vernuͤnftler, der eine der beſteu Grauniſchen, oder
Haßiſchen Opern von guten Saͤngern vorgetragen
gehoͤrt hat, wird geſtehen, daß die Empfindung
nicht von Vernunftſchluͤßen abhaͤngt. So unge-
reimt die Oper ſcheinet, wenn man blos die kahlen
Begriffe, die der Verſtand ſich davon macht, ent-
wikelt, ſo einnehmend iſt ſie, wenn man auch nur
eine recht gute Scene davon geſehen hat.

Da wir den Dichter fuͤr die Hauptperſon halten,
um die Oper zu einem guten Schauſpiehl zu ma-
chen, ſo werden wir uͤber das andere, was dazu ge-
hoͤrt kuͤrzer ſeyn. Denn wir haben Proben genug
vor uns, daß die Muſik, wenn ſie nur gut geleitet
wird, das Jhrige bey der Sache ſehr gut zu thun,
vollkommen genug iſt. Wir wiſſen, daß Haͤndel,
Graun und Haße, um blos der Unſrigen zu erwaͤh-
nen, die gewiß keinem Welſchen Tonſezer weichen
duͤrfen, jeden Ton der Empfindung zu treffen, und
jede Leidenſchaft zu ſchildern gewußt haben. Wir
duͤrfen alſo, da doch das Genie nicht von Unterricht
abhaͤngt, nur die Tonſezer von Genie vermahnen,
ihre Kunſt auf die Art, wie dieſe Maͤnner gethan
haben, zu ſtudiren; hiernaͤchſt aber ſie vor einigen
Fehltritten warnen, die ſelbſt dieſe große Maͤnner,
durch die Mode verleitet, gethan haben.

Daß uͤberhaupt der Geſang in den Opern uͤber-
trieben und bis zur Ausſchweiffung gekuͤnſtelt ſey,
kann duͤnkt mich auch von dem waͤrmeſten Liebha-
ber des kuͤnſtlichen Geſanges nicht gelaͤugnet wer-
werden. Das Angenehme und Suͤße herrſcht darin
ſo ſehr, daß die Kraft des Ausdruks gar zu ofte da-
durch verdunkelt wird. Hier iſt noch nicht die Rede
von den langen Laͤufen, ſondern von den uͤbertrie-
benen Ausziehrungen einzeler Toͤne, wodurch gar
ofte anſtatt eines, oder zweyer Toͤne vier, ſechs auch
wol gar acht auf eine einzige Sylbe kommen. Die-
ſes iſt offenbar ein Mißbrauch, der durch die unbe-
ſonnene Begierde der Saͤnger uͤberall kuͤnſtlich und
[Spaltenumbruch]

Ope
ſchoͤn zu thun, Veraͤnderungen anzubringen, und
eine rare Beugſamkeit der Kehle zu zeigen, in die
Arien eingefuͤhrt worden iſt. Nachdem man ge-
merkt, daß der Vortrag des Geſanges Nachdruk
und Leben bekomme, wenn die Toͤne nicht ſteif und
durchaus monotoniſch angegeben, ſondern bald ſanft
geſchleift, bald etwas gezogen und ſchwebend, bald
mit einem ſanften Vorſchlag, oder Nachſchlag ange-
geben wuͤrden; ſo trieben die Saͤnger ohne Ge-
ſchmak die Sach allmaͤhlig bis zum Mißbrauch,
und verwandelten bald jeden Ton in mehrere. Die
Tonſezer moͤgen bemerkt haben, daß dieſes nicht alle-
mal geſchikt, noch mit der Harmonie paſſend ge-
ſchehe. Dieſes brachte ſie vermuthlich auf den Ge-
danken die ausziehrenden Toͤne und Manieren dem
Saͤnger vorzuſchreiben; und dadurch vermehrte ſich
die Anzahl der auf einen Takt gehenden Toͤne. Nun
fiengen die Saͤnger aufs neue an, willkuͤhrliche Aus-
ziehrungstoͤne hinzuzuthun, und auch darin gaben
die Tonſezer nach, und ſchrieben ihnen noch mehr
vor, bis die izt gewoͤhnliche und noch immer mehr
zunehmende Verbraͤmung daraus entſtund, wodurch
die Sylben und ganze Worte unverſtaͤndlich, der
Geſang ſelbſt aber in eine Jnſtrumentalſtimme ver-
wandelt worden.

Es iſt ſehr zu wuͤnſchen, daß dieſer Mißbrauch
wieder eingeſtellt, und der Geſang auf mehr Ein-
falt gebracht, ſeine vorzuͤgliche Kraft aber in wah-
rem Ausdruk der Empfindung und nicht in Zierlich-
keit und kuͤnſtlichen Tongruppen geſucht werde.
Jn Stuͤken von blos lieblichem Jnhalt, wo die Em-
pfindung wuͤrklich etwas wolluͤſtiges hat, koͤnnen
ſolche Verbraͤmungen ſtatt haben; aber in ernſthaf-
ten, pathetiſchen Sachen ſind ſie groͤßtentheils un-
gereimt, ſo lieblich ſie auch das Gehoͤr kuͤzeln. Haͤn-
del war darin noch maͤßig, aber unſer ſonſt ſo fuͤr-
trefliche Graun, hat ſich von dem Strohm des Vor-
urtheils zu ſehr hinreiſſen laſſen.

Ein eben ſo großer Mißbrauch ſind die ſo ſehr
haͤufigen Laͤufe, oder ſogenannten Rouladen, die
in jeder Arie an mehrern Stellen und oft auf jedem
ſchiklichen Vocal vorkommen; ſo daß Unwiſſende
leicht auf die Gedanken gerathen, daß ſie die Haupt-
ſach in der Arie ausmachen. Man ſieht in der That
in dem Opern ofte, daß die Zuhoͤrer nicht eher auf-
merkſam werden, bis der Saͤnger an die Laͤufe
kommt, wo er bald das Gurgeln der Taube, bald
das Gezwitſcher der Lerche, bald das Ziehen und

Schla-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0265" n="848[830]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ope</hi></fw><lb/>
&#x017F;ehr mannigfaltige Wei&#x017F;e behandelt werden, ohne<lb/>
in das Unnatu&#x0364;rliche und Ungereimte zu verfallen,<lb/>
das un&#x017F;ere Oper &#x017F;o abentheuerlich macht. Bey Wie-<lb/>
derlegung des Einwurfes, daß es u&#x0364;berhaupt unna-<lb/>
tu&#x0364;rlich &#x017F;ey Men&#x017F;chen bey einer ern&#x017F;thaften Handlung<lb/>
durchaus &#x017F;ingend einzufu&#x0364;hren, wollen wir uns nicht<lb/>
aufhalten. Wir wollen ge&#x017F;tehen, daß man einem<lb/>
Men&#x017F;chen, der nie eine gute Oper ge&#x017F;ehen hat, durch<lb/>
richtige Vernunft&#x017F;chlu&#x0364;ße bewei&#x017F;en ko&#x0364;nne, die&#x017F;es Schau-<lb/>
&#x017F;piehl &#x017F;ey durchaus unnatu&#x0364;rlich; aber der gro&#x0364;ßte<lb/>
Vernu&#x0364;nftler, der eine der be&#x017F;teu Grauni&#x017F;chen, oder<lb/>
Haßi&#x017F;chen Opern von guten Sa&#x0364;ngern vorgetragen<lb/>
geho&#x0364;rt hat, wird ge&#x017F;tehen, daß die Empfindung<lb/>
nicht von Vernunft&#x017F;chlu&#x0364;ßen abha&#x0364;ngt. So unge-<lb/>
reimt die Oper &#x017F;cheinet, wenn man blos die kahlen<lb/>
Begriffe, die der Ver&#x017F;tand &#x017F;ich davon macht, ent-<lb/>
wikelt, &#x017F;o einnehmend i&#x017F;t &#x017F;ie, wenn man auch nur<lb/>
eine recht gute Scene davon ge&#x017F;ehen hat.</p><lb/>
          <p>Da wir den Dichter fu&#x0364;r die Hauptper&#x017F;on halten,<lb/>
um die Oper zu einem guten Schau&#x017F;piehl zu ma-<lb/>
chen, &#x017F;o werden wir u&#x0364;ber das andere, was dazu ge-<lb/>
ho&#x0364;rt ku&#x0364;rzer &#x017F;eyn. Denn wir haben Proben genug<lb/>
vor uns, daß die Mu&#x017F;ik, wenn &#x017F;ie nur gut geleitet<lb/>
wird, das Jhrige bey der Sache &#x017F;ehr gut zu thun,<lb/>
vollkommen genug i&#x017F;t. Wir wi&#x017F;&#x017F;en, daß <hi rendition="#fr">Ha&#x0364;ndel,<lb/>
Graun</hi> und <hi rendition="#fr">Haße,</hi> um blos der Un&#x017F;rigen zu erwa&#x0364;h-<lb/>
nen, die gewiß keinem Wel&#x017F;chen Ton&#x017F;ezer weichen<lb/>
du&#x0364;rfen, jeden Ton der Empfindung zu treffen, und<lb/>
jede Leiden&#x017F;chaft zu &#x017F;childern gewußt haben. Wir<lb/>
du&#x0364;rfen al&#x017F;o, da doch das Genie nicht von Unterricht<lb/>
abha&#x0364;ngt, nur die Ton&#x017F;ezer von Genie vermahnen,<lb/>
ihre Kun&#x017F;t auf die Art, wie die&#x017F;e Ma&#x0364;nner gethan<lb/>
haben, zu &#x017F;tudiren; hierna&#x0364;ch&#x017F;t aber &#x017F;ie vor einigen<lb/>
Fehltritten warnen, die &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e große Ma&#x0364;nner,<lb/>
durch die Mode verleitet, gethan haben.</p><lb/>
          <p>Daß u&#x0364;berhaupt der Ge&#x017F;ang in den Opern u&#x0364;ber-<lb/>
trieben und bis zur Aus&#x017F;chweiffung geku&#x0364;n&#x017F;telt &#x017F;ey,<lb/>
kann du&#x0364;nkt mich auch von dem wa&#x0364;rme&#x017F;ten Liebha-<lb/>
ber des ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Ge&#x017F;anges nicht gela&#x0364;ugnet wer-<lb/>
werden. Das Angenehme und Su&#x0364;ße herr&#x017F;cht darin<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr, daß die Kraft des Ausdruks gar zu ofte da-<lb/>
durch verdunkelt wird. Hier i&#x017F;t noch nicht die Rede<lb/>
von den langen La&#x0364;ufen, &#x017F;ondern von den u&#x0364;bertrie-<lb/>
benen Ausziehrungen einzeler To&#x0364;ne, wodurch gar<lb/>
ofte an&#x017F;tatt eines, oder zweyer To&#x0364;ne vier, &#x017F;echs auch<lb/>
wol gar acht auf eine einzige Sylbe kommen. Die-<lb/>
&#x017F;es i&#x017F;t offenbar ein Mißbrauch, der durch die unbe-<lb/>
&#x017F;onnene Begierde der Sa&#x0364;nger u&#x0364;berall ku&#x0364;n&#x017F;tlich und<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ope</hi></fw><lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n zu thun, Vera&#x0364;nderungen anzubringen, und<lb/>
eine rare Beug&#x017F;amkeit der Kehle zu zeigen, in die<lb/>
Arien eingefu&#x0364;hrt worden i&#x017F;t. Nachdem man ge-<lb/>
merkt, daß der Vortrag des Ge&#x017F;anges Nachdruk<lb/>
und Leben bekomme, wenn die To&#x0364;ne nicht &#x017F;teif und<lb/>
durchaus monotoni&#x017F;ch angegeben, &#x017F;ondern bald &#x017F;anft<lb/>
ge&#x017F;chleift, bald etwas gezogen und &#x017F;chwebend, bald<lb/>
mit einem &#x017F;anften Vor&#x017F;chlag, oder Nach&#x017F;chlag ange-<lb/>
geben wu&#x0364;rden; &#x017F;o trieben die Sa&#x0364;nger ohne Ge-<lb/>
&#x017F;chmak die Sach allma&#x0364;hlig bis zum Mißbrauch,<lb/>
und verwandelten bald jeden Ton in mehrere. Die<lb/>
Ton&#x017F;ezer mo&#x0364;gen bemerkt haben, daß die&#x017F;es nicht alle-<lb/>
mal ge&#x017F;chikt, noch mit der Harmonie pa&#x017F;&#x017F;end ge-<lb/>
&#x017F;chehe. Die&#x017F;es brachte &#x017F;ie vermuthlich auf den Ge-<lb/>
danken die ausziehrenden To&#x0364;ne und Manieren dem<lb/>
Sa&#x0364;nger vorzu&#x017F;chreiben; und dadurch vermehrte &#x017F;ich<lb/>
die Anzahl der auf einen Takt gehenden To&#x0364;ne. Nun<lb/>
fiengen die Sa&#x0364;nger aufs neue an, willku&#x0364;hrliche Aus-<lb/>
ziehrungsto&#x0364;ne hinzuzuthun, und auch darin gaben<lb/>
die Ton&#x017F;ezer nach, und &#x017F;chrieben ihnen noch mehr<lb/>
vor, bis die izt gewo&#x0364;hnliche und noch immer mehr<lb/>
zunehmende Verbra&#x0364;mung daraus ent&#x017F;tund, wodurch<lb/>
die Sylben und ganze Worte unver&#x017F;ta&#x0364;ndlich, der<lb/>
Ge&#x017F;ang &#x017F;elb&#x017F;t aber in eine Jn&#x017F;trumental&#x017F;timme ver-<lb/>
wandelt worden.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t &#x017F;ehr zu wu&#x0364;n&#x017F;chen, daß die&#x017F;er Mißbrauch<lb/>
wieder einge&#x017F;tellt, und der Ge&#x017F;ang auf mehr Ein-<lb/>
falt gebracht, &#x017F;eine vorzu&#x0364;gliche Kraft aber in wah-<lb/>
rem Ausdruk der Empfindung und nicht in Zierlich-<lb/>
keit und ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Tongruppen ge&#x017F;ucht werde.<lb/>
Jn Stu&#x0364;ken von blos lieblichem Jnhalt, wo die Em-<lb/>
pfindung wu&#x0364;rklich etwas wollu&#x0364;&#x017F;tiges hat, ko&#x0364;nnen<lb/>
&#x017F;olche Verbra&#x0364;mungen &#x017F;tatt haben; aber in ern&#x017F;thaf-<lb/>
ten, patheti&#x017F;chen Sachen &#x017F;ind &#x017F;ie gro&#x0364;ßtentheils un-<lb/>
gereimt, &#x017F;o lieblich &#x017F;ie auch das Geho&#x0364;r ku&#x0364;zeln. <hi rendition="#fr">Ha&#x0364;n-<lb/>
del</hi> war darin noch ma&#x0364;ßig, aber un&#x017F;er &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o fu&#x0364;r-<lb/>
trefliche <hi rendition="#fr">Graun,</hi> hat &#x017F;ich von dem Strohm des Vor-<lb/>
urtheils zu &#x017F;ehr hinrei&#x017F;&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Ein eben &#x017F;o großer Mißbrauch &#x017F;ind die &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
ha&#x0364;ufigen La&#x0364;ufe, oder &#x017F;ogenannten Rouladen, die<lb/>
in jeder Arie an mehrern Stellen und oft auf jedem<lb/>
&#x017F;chiklichen Vocal vorkommen; &#x017F;o daß Unwi&#x017F;&#x017F;ende<lb/>
leicht auf die Gedanken gerathen, daß &#x017F;ie die Haupt-<lb/>
&#x017F;ach in der Arie ausmachen. Man &#x017F;ieht in der That<lb/>
in dem Opern ofte, daß die Zuho&#x0364;rer nicht eher auf-<lb/>
merk&#x017F;am werden, bis der Sa&#x0364;nger an die La&#x0364;ufe<lb/>
kommt, wo er bald das Gurgeln der Taube, bald<lb/>
das Gezwit&#x017F;cher der Lerche, bald das Ziehen und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Schla-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[848[830]/0265] Ope Ope ſehr mannigfaltige Weiſe behandelt werden, ohne in das Unnatuͤrliche und Ungereimte zu verfallen, das unſere Oper ſo abentheuerlich macht. Bey Wie- derlegung des Einwurfes, daß es uͤberhaupt unna- tuͤrlich ſey Menſchen bey einer ernſthaften Handlung durchaus ſingend einzufuͤhren, wollen wir uns nicht aufhalten. Wir wollen geſtehen, daß man einem Menſchen, der nie eine gute Oper geſehen hat, durch richtige Vernunftſchluͤße beweiſen koͤnne, dieſes Schau- ſpiehl ſey durchaus unnatuͤrlich; aber der groͤßte Vernuͤnftler, der eine der beſteu Grauniſchen, oder Haßiſchen Opern von guten Saͤngern vorgetragen gehoͤrt hat, wird geſtehen, daß die Empfindung nicht von Vernunftſchluͤßen abhaͤngt. So unge- reimt die Oper ſcheinet, wenn man blos die kahlen Begriffe, die der Verſtand ſich davon macht, ent- wikelt, ſo einnehmend iſt ſie, wenn man auch nur eine recht gute Scene davon geſehen hat. Da wir den Dichter fuͤr die Hauptperſon halten, um die Oper zu einem guten Schauſpiehl zu ma- chen, ſo werden wir uͤber das andere, was dazu ge- hoͤrt kuͤrzer ſeyn. Denn wir haben Proben genug vor uns, daß die Muſik, wenn ſie nur gut geleitet wird, das Jhrige bey der Sache ſehr gut zu thun, vollkommen genug iſt. Wir wiſſen, daß Haͤndel, Graun und Haße, um blos der Unſrigen zu erwaͤh- nen, die gewiß keinem Welſchen Tonſezer weichen duͤrfen, jeden Ton der Empfindung zu treffen, und jede Leidenſchaft zu ſchildern gewußt haben. Wir duͤrfen alſo, da doch das Genie nicht von Unterricht abhaͤngt, nur die Tonſezer von Genie vermahnen, ihre Kunſt auf die Art, wie dieſe Maͤnner gethan haben, zu ſtudiren; hiernaͤchſt aber ſie vor einigen Fehltritten warnen, die ſelbſt dieſe große Maͤnner, durch die Mode verleitet, gethan haben. Daß uͤberhaupt der Geſang in den Opern uͤber- trieben und bis zur Ausſchweiffung gekuͤnſtelt ſey, kann duͤnkt mich auch von dem waͤrmeſten Liebha- ber des kuͤnſtlichen Geſanges nicht gelaͤugnet wer- werden. Das Angenehme und Suͤße herrſcht darin ſo ſehr, daß die Kraft des Ausdruks gar zu ofte da- durch verdunkelt wird. Hier iſt noch nicht die Rede von den langen Laͤufen, ſondern von den uͤbertrie- benen Ausziehrungen einzeler Toͤne, wodurch gar ofte anſtatt eines, oder zweyer Toͤne vier, ſechs auch wol gar acht auf eine einzige Sylbe kommen. Die- ſes iſt offenbar ein Mißbrauch, der durch die unbe- ſonnene Begierde der Saͤnger uͤberall kuͤnſtlich und ſchoͤn zu thun, Veraͤnderungen anzubringen, und eine rare Beugſamkeit der Kehle zu zeigen, in die Arien eingefuͤhrt worden iſt. Nachdem man ge- merkt, daß der Vortrag des Geſanges Nachdruk und Leben bekomme, wenn die Toͤne nicht ſteif und durchaus monotoniſch angegeben, ſondern bald ſanft geſchleift, bald etwas gezogen und ſchwebend, bald mit einem ſanften Vorſchlag, oder Nachſchlag ange- geben wuͤrden; ſo trieben die Saͤnger ohne Ge- ſchmak die Sach allmaͤhlig bis zum Mißbrauch, und verwandelten bald jeden Ton in mehrere. Die Tonſezer moͤgen bemerkt haben, daß dieſes nicht alle- mal geſchikt, noch mit der Harmonie paſſend ge- ſchehe. Dieſes brachte ſie vermuthlich auf den Ge- danken die ausziehrenden Toͤne und Manieren dem Saͤnger vorzuſchreiben; und dadurch vermehrte ſich die Anzahl der auf einen Takt gehenden Toͤne. Nun fiengen die Saͤnger aufs neue an, willkuͤhrliche Aus- ziehrungstoͤne hinzuzuthun, und auch darin gaben die Tonſezer nach, und ſchrieben ihnen noch mehr vor, bis die izt gewoͤhnliche und noch immer mehr zunehmende Verbraͤmung daraus entſtund, wodurch die Sylben und ganze Worte unverſtaͤndlich, der Geſang ſelbſt aber in eine Jnſtrumentalſtimme ver- wandelt worden. Es iſt ſehr zu wuͤnſchen, daß dieſer Mißbrauch wieder eingeſtellt, und der Geſang auf mehr Ein- falt gebracht, ſeine vorzuͤgliche Kraft aber in wah- rem Ausdruk der Empfindung und nicht in Zierlich- keit und kuͤnſtlichen Tongruppen geſucht werde. Jn Stuͤken von blos lieblichem Jnhalt, wo die Em- pfindung wuͤrklich etwas wolluͤſtiges hat, koͤnnen ſolche Verbraͤmungen ſtatt haben; aber in ernſthaf- ten, pathetiſchen Sachen ſind ſie groͤßtentheils un- gereimt, ſo lieblich ſie auch das Gehoͤr kuͤzeln. Haͤn- del war darin noch maͤßig, aber unſer ſonſt ſo fuͤr- trefliche Graun, hat ſich von dem Strohm des Vor- urtheils zu ſehr hinreiſſen laſſen. Ein eben ſo großer Mißbrauch ſind die ſo ſehr haͤufigen Laͤufe, oder ſogenannten Rouladen, die in jeder Arie an mehrern Stellen und oft auf jedem ſchiklichen Vocal vorkommen; ſo daß Unwiſſende leicht auf die Gedanken gerathen, daß ſie die Haupt- ſach in der Arie ausmachen. Man ſieht in der That in dem Opern ofte, daß die Zuhoͤrer nicht eher auf- merkſam werden, bis der Saͤnger an die Laͤufe kommt, wo er bald das Gurgeln der Taube, bald das Gezwitſcher der Lerche, bald das Ziehen und Schla-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/265
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 848[830]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/265>, abgerufen am 12.05.2024.