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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wenn das, was über diese Materie zu sagen ist,
ausgeführt werden sollte; so müßte man sich in eine
nähere Betrachtung aller Geheimnisse der dramati-
schen Kunst einlassen. Wir wollen von dem wesent-
lichen des Drama nur so viel anführen, als nöthig
ist, um das was zu der Wahl der besondern Sce-
nen gehöret, zu beurtheilen.

Jch glaube guten Grund zu haben aus der Be-
schaffenheit der griechischen Trauerspiehle zu schließen,
daß ihre Verfasser sich zur Hauptmaxime gemacht
haben, eine bekannte wichtige Handlung, so wie sie
an einem bestimmten Ort hat vorfallen können, auf
eine dem Zwek ihres Trauerspiehls gemäße Weise
zu schildern. Nach der allgemeinen Wahl der Ma-
terie scheinet ihre erste Sorge auf die Wahl einer
schiklichen Scene gerichtet gewesen zu seyn; da sie
es für ein Grundgesez hielten, diese Scene durchaus
unverändert beyzubehalten, konnte ihnen nicht ein-
fallen etwas vorzustellen, oder dem Zuschauer etwas
von der Handlung sehen zu lassen, das an einem
andern Orte vorgefallen. Gehörte etwas, das aus-
serhalb dieser einzigen unveränderlichen Scene vorge-
fallen war, nothwendig mit zur Handlung, so wuß-
ten sie die Erzählung, oder die bloße Erwähnung
desselben, wenn diese schon hinlänglich war, den
auf der Scene erscheinenden Personen, auf eine
schikliche Weise in den Mund zu legen. Nun gieng
also ihre Hauptbemühung darauf, wie sie diese ein-
zige unveränderliche Scene, die gleichsam der Pol
war, nach welchem sie ihre Fahrt einrichteten, wür-
dig anfüllen könnten. Daß sie Genie genug dazu
gehabt haben, liegt am Tage.

Hingegen kommt es mir vor, daß die Neuern
nach einer andern Grundmaxime verfahren. Nicht
die besondere Scene ist der Pol, der ihren Lauf lei-
tet; sondern die Handlung, die Charaktere, und
überhaupt das, was sie vorzustellen sich schon vor-
genommen haben. Nach diesem Bedürfnis muß
die Scene, so oft es nöthig ist, sich verändern. Wir
haben so gar Stüke, die keine Haupthandlung ha-
ben, wo der Dichter sich zur Grundmaxime gemacht
hat, um den Charakter seiner Hauptperson recht zu
schildern, aus seinen Thaten von mehrern Jahren,
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das heraus zu suchen, was zu der Schilderung die-
net. (+) Kurz bey den meisten Neuern hat die Be-
trachtung der Scenen gar keinen Einfluß auf die
Wahl des besondern in der Materie, sondern diese
ziehet die Scenen nach sich; da bey den Alten, die
Scene jenes nach sich zog.

Es ist hier der Ort nicht zu untersuchen, welche
von diesen beyden Arten zu verfahren, die beste sey.
Nur im Vorbeygange bemerken wir, daß die leztere
für die Gemächlichkeit des Dichters, bequämer, als
jene sey, und daß sie auch weniger Erfindungskraft
erfodere. Denn es ist ungleich leichter, aus der
Geschicht eines Menschen das herauszusuchen, was
seinen Charakter ins Licht sezet; oder wenn die Ge-
schicht es nicht darbiethet, etwas in dieser Absicht
zu erdenken, wenn man durch die Seene nicht ge-
bunden wird; als solche Sachen gerade für diese
schon bestimmte Scene, die für die ganze Handlung
dieselbe bleibet, auszudenken. Dieses beyseite ge-
sezt, merken wir hier nur so viel an, daß die Be-
handlung, nach der Maxime der Neuern, die be-
ständige Veränderung der Scene nothwendig mache.
Wird dieses gehörig beobachtet, so ist alsdenn der
Dichter, so bald man nur die Grundmaxime seines
Verfahrens gut geheißen hat, (und sie ist würklich,
als eine besondere Art, gar nicht zu verwerfen)
nicht mehr zu tadeln.

Nun kommt aber noch eine dritte Behandlungs-
art vor, welche sich eigentlich an gar kein Grund-
gesez mehr bindet. Weder die Scene, noch die Na-
tur der Handlung, noch die Charaktere bestimmen
die Wahl des Einzelen; sondern der Dichter nihmt
von der Handlung alles mit, was ihm einfällt, wenn
er nur glaubt, daß es dem Zuschauer von irgend
einer Seite her gefalle. Da kommen Zeit und Ort
gar nicht mehr in Betrachtung. Der Dichter hat,
ohne die geringste Rüksicht, daß jedes, was geschieht,
nothwendig eine gewisse Zeit erfodere, und an einem
schiklichen Orte geschehen müsse, seine ganze Hand-
lung so eingerichtet, wie es etwa bey einer bloßen
Erzählung geschieht, da weder Zeit noch Ort
der Handlung Einfluß auf die Erzählung haben
können.

Aus
(+) [Spaltenumbruch]
Hievon ist das kürzlich herausgekommene Stük,
Göz von Berlichingen die neueste Probe. Jch habe
nichts gegen den Werth solcher Stüke, die man pieces a
tiroir
nennen könnte, zu erinnern. Nur muß man sie nicht
[Spaltenumbruch] für Muster der Tragödie überhaupt ausgeben, sonst geht
die Kunst des Sophokles ganz verlohren; denn wäre der
Verlust doch größer, als der gänzliche Mangel solcher Trau-
erspiehle der neuesten Art.
[Spaltenumbruch]
Sce

Wenn das, was uͤber dieſe Materie zu ſagen iſt,
ausgefuͤhrt werden ſollte; ſo muͤßte man ſich in eine
naͤhere Betrachtung aller Geheimniſſe der dramati-
ſchen Kunſt einlaſſen. Wir wollen von dem weſent-
lichen des Drama nur ſo viel anfuͤhren, als noͤthig
iſt, um das was zu der Wahl der beſondern Sce-
nen gehoͤret, zu beurtheilen.

Jch glaube guten Grund zu haben aus der Be-
ſchaffenheit der griechiſchen Trauerſpiehle zu ſchließen,
daß ihre Verfaſſer ſich zur Hauptmaxime gemacht
haben, eine bekannte wichtige Handlung, ſo wie ſie
an einem beſtimmten Ort hat vorfallen koͤnnen, auf
eine dem Zwek ihres Trauerſpiehls gemaͤße Weiſe
zu ſchildern. Nach der allgemeinen Wahl der Ma-
terie ſcheinet ihre erſte Sorge auf die Wahl einer
ſchiklichen Scene gerichtet geweſen zu ſeyn; da ſie
es fuͤr ein Grundgeſez hielten, dieſe Scene durchaus
unveraͤndert beyzubehalten, konnte ihnen nicht ein-
fallen etwas vorzuſtellen, oder dem Zuſchauer etwas
von der Handlung ſehen zu laſſen, das an einem
andern Orte vorgefallen. Gehoͤrte etwas, das auſ-
ſerhalb dieſer einzigen unveraͤnderlichen Scene vorge-
fallen war, nothwendig mit zur Handlung, ſo wuß-
ten ſie die Erzaͤhlung, oder die bloße Erwaͤhnung
deſſelben, wenn dieſe ſchon hinlaͤnglich war, den
auf der Scene erſcheinenden Perſonen, auf eine
ſchikliche Weiſe in den Mund zu legen. Nun gieng
alſo ihre Hauptbemuͤhung darauf, wie ſie dieſe ein-
zige unveraͤnderliche Scene, die gleichſam der Pol
war, nach welchem ſie ihre Fahrt einrichteten, wuͤr-
dig anfuͤllen koͤnnten. Daß ſie Genie genug dazu
gehabt haben, liegt am Tage.

Hingegen kommt es mir vor, daß die Neuern
nach einer andern Grundmaxime verfahren. Nicht
die beſondere Scene iſt der Pol, der ihren Lauf lei-
tet; ſondern die Handlung, die Charaktere, und
uͤberhaupt das, was ſie vorzuſtellen ſich ſchon vor-
genommen haben. Nach dieſem Beduͤrfnis muß
die Scene, ſo oft es noͤthig iſt, ſich veraͤndern. Wir
haben ſo gar Stuͤke, die keine Haupthandlung ha-
ben, wo der Dichter ſich zur Grundmaxime gemacht
hat, um den Charakter ſeiner Hauptperſon recht zu
ſchildern, aus ſeinen Thaten von mehrern Jahren,
[Spaltenumbruch]

Sce
das heraus zu ſuchen, was zu der Schilderung die-
net. (†) Kurz bey den meiſten Neuern hat die Be-
trachtung der Scenen gar keinen Einfluß auf die
Wahl des beſondern in der Materie, ſondern dieſe
ziehet die Scenen nach ſich; da bey den Alten, die
Scene jenes nach ſich zog.

Es iſt hier der Ort nicht zu unterſuchen, welche
von dieſen beyden Arten zu verfahren, die beſte ſey.
Nur im Vorbeygange bemerken wir, daß die leztere
fuͤr die Gemaͤchlichkeit des Dichters, bequaͤmer, als
jene ſey, und daß ſie auch weniger Erfindungskraft
erfodere. Denn es iſt ungleich leichter, aus der
Geſchicht eines Menſchen das herauszuſuchen, was
ſeinen Charakter ins Licht ſezet; oder wenn die Ge-
ſchicht es nicht darbiethet, etwas in dieſer Abſicht
zu erdenken, wenn man durch die Seene nicht ge-
bunden wird; als ſolche Sachen gerade fuͤr dieſe
ſchon beſtimmte Scene, die fuͤr die ganze Handlung
dieſelbe bleibet, auszudenken. Dieſes beyſeite ge-
ſezt, merken wir hier nur ſo viel an, daß die Be-
handlung, nach der Maxime der Neuern, die be-
ſtaͤndige Veraͤnderung der Scene nothwendig mache.
Wird dieſes gehoͤrig beobachtet, ſo iſt alsdenn der
Dichter, ſo bald man nur die Grundmaxime ſeines
Verfahrens gut geheißen hat, (und ſie iſt wuͤrklich,
als eine beſondere Art, gar nicht zu verwerfen)
nicht mehr zu tadeln.

Nun kommt aber noch eine dritte Behandlungs-
art vor, welche ſich eigentlich an gar kein Grund-
geſez mehr bindet. Weder die Scene, noch die Na-
tur der Handlung, noch die Charaktere beſtimmen
die Wahl des Einzelen; ſondern der Dichter nihmt
von der Handlung alles mit, was ihm einfaͤllt, wenn
er nur glaubt, daß es dem Zuſchauer von irgend
einer Seite her gefalle. Da kommen Zeit und Ort
gar nicht mehr in Betrachtung. Der Dichter hat,
ohne die geringſte Ruͤkſicht, daß jedes, was geſchieht,
nothwendig eine gewiſſe Zeit erfodere, und an einem
ſchiklichen Orte geſchehen muͤſſe, ſeine ganze Hand-
lung ſo eingerichtet, wie es etwa bey einer bloßen
Erzaͤhlung geſchieht, da weder Zeit noch Ort
der Handlung Einfluß auf die Erzaͤhlung haben
koͤnnen.

Aus
(†) [Spaltenumbruch]
Hievon iſt das kuͤrzlich herausgekommene Stuͤk,
Goͤz von Berlichingen die neueſte Probe. Jch habe
nichts gegen den Werth ſolcher Stuͤke, die man pieçes a
tiroir
nennen koͤnnte, zu erinnern. Nur muß man ſie nicht
[Spaltenumbruch] fuͤr Muſter der Tragoͤdie uͤberhaupt ausgeben, ſonſt geht
die Kunſt des Sophokles ganz verlohren; denn waͤre der
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[1012[994]/0441] Sce Sce Wenn das, was uͤber dieſe Materie zu ſagen iſt, ausgefuͤhrt werden ſollte; ſo muͤßte man ſich in eine naͤhere Betrachtung aller Geheimniſſe der dramati- ſchen Kunſt einlaſſen. Wir wollen von dem weſent- lichen des Drama nur ſo viel anfuͤhren, als noͤthig iſt, um das was zu der Wahl der beſondern Sce- nen gehoͤret, zu beurtheilen. Jch glaube guten Grund zu haben aus der Be- ſchaffenheit der griechiſchen Trauerſpiehle zu ſchließen, daß ihre Verfaſſer ſich zur Hauptmaxime gemacht haben, eine bekannte wichtige Handlung, ſo wie ſie an einem beſtimmten Ort hat vorfallen koͤnnen, auf eine dem Zwek ihres Trauerſpiehls gemaͤße Weiſe zu ſchildern. Nach der allgemeinen Wahl der Ma- terie ſcheinet ihre erſte Sorge auf die Wahl einer ſchiklichen Scene gerichtet geweſen zu ſeyn; da ſie es fuͤr ein Grundgeſez hielten, dieſe Scene durchaus unveraͤndert beyzubehalten, konnte ihnen nicht ein- fallen etwas vorzuſtellen, oder dem Zuſchauer etwas von der Handlung ſehen zu laſſen, das an einem andern Orte vorgefallen. Gehoͤrte etwas, das auſ- ſerhalb dieſer einzigen unveraͤnderlichen Scene vorge- fallen war, nothwendig mit zur Handlung, ſo wuß- ten ſie die Erzaͤhlung, oder die bloße Erwaͤhnung deſſelben, wenn dieſe ſchon hinlaͤnglich war, den auf der Scene erſcheinenden Perſonen, auf eine ſchikliche Weiſe in den Mund zu legen. Nun gieng alſo ihre Hauptbemuͤhung darauf, wie ſie dieſe ein- zige unveraͤnderliche Scene, die gleichſam der Pol war, nach welchem ſie ihre Fahrt einrichteten, wuͤr- dig anfuͤllen koͤnnten. Daß ſie Genie genug dazu gehabt haben, liegt am Tage. Hingegen kommt es mir vor, daß die Neuern nach einer andern Grundmaxime verfahren. Nicht die beſondere Scene iſt der Pol, der ihren Lauf lei- tet; ſondern die Handlung, die Charaktere, und uͤberhaupt das, was ſie vorzuſtellen ſich ſchon vor- genommen haben. Nach dieſem Beduͤrfnis muß die Scene, ſo oft es noͤthig iſt, ſich veraͤndern. Wir haben ſo gar Stuͤke, die keine Haupthandlung ha- ben, wo der Dichter ſich zur Grundmaxime gemacht hat, um den Charakter ſeiner Hauptperſon recht zu ſchildern, aus ſeinen Thaten von mehrern Jahren, das heraus zu ſuchen, was zu der Schilderung die- net. (†) Kurz bey den meiſten Neuern hat die Be- trachtung der Scenen gar keinen Einfluß auf die Wahl des beſondern in der Materie, ſondern dieſe ziehet die Scenen nach ſich; da bey den Alten, die Scene jenes nach ſich zog. Es iſt hier der Ort nicht zu unterſuchen, welche von dieſen beyden Arten zu verfahren, die beſte ſey. Nur im Vorbeygange bemerken wir, daß die leztere fuͤr die Gemaͤchlichkeit des Dichters, bequaͤmer, als jene ſey, und daß ſie auch weniger Erfindungskraft erfodere. Denn es iſt ungleich leichter, aus der Geſchicht eines Menſchen das herauszuſuchen, was ſeinen Charakter ins Licht ſezet; oder wenn die Ge- ſchicht es nicht darbiethet, etwas in dieſer Abſicht zu erdenken, wenn man durch die Seene nicht ge- bunden wird; als ſolche Sachen gerade fuͤr dieſe ſchon beſtimmte Scene, die fuͤr die ganze Handlung dieſelbe bleibet, auszudenken. Dieſes beyſeite ge- ſezt, merken wir hier nur ſo viel an, daß die Be- handlung, nach der Maxime der Neuern, die be- ſtaͤndige Veraͤnderung der Scene nothwendig mache. Wird dieſes gehoͤrig beobachtet, ſo iſt alsdenn der Dichter, ſo bald man nur die Grundmaxime ſeines Verfahrens gut geheißen hat, (und ſie iſt wuͤrklich, als eine beſondere Art, gar nicht zu verwerfen) nicht mehr zu tadeln. Nun kommt aber noch eine dritte Behandlungs- art vor, welche ſich eigentlich an gar kein Grund- geſez mehr bindet. Weder die Scene, noch die Na- tur der Handlung, noch die Charaktere beſtimmen die Wahl des Einzelen; ſondern der Dichter nihmt von der Handlung alles mit, was ihm einfaͤllt, wenn er nur glaubt, daß es dem Zuſchauer von irgend einer Seite her gefalle. Da kommen Zeit und Ort gar nicht mehr in Betrachtung. Der Dichter hat, ohne die geringſte Ruͤkſicht, daß jedes, was geſchieht, nothwendig eine gewiſſe Zeit erfodere, und an einem ſchiklichen Orte geſchehen muͤſſe, ſeine ganze Hand- lung ſo eingerichtet, wie es etwa bey einer bloßen Erzaͤhlung geſchieht, da weder Zeit noch Ort der Handlung Einfluß auf die Erzaͤhlung haben koͤnnen. Aus (†) Hievon iſt das kuͤrzlich herausgekommene Stuͤk, Goͤz von Berlichingen die neueſte Probe. Jch habe nichts gegen den Werth ſolcher Stuͤke, die man pieçes a tiroir nennen koͤnnte, zu erinnern. Nur muß man ſie nicht fuͤr Muſter der Tragoͤdie uͤberhaupt ausgeben, ſonſt geht die Kunſt des Sophokles ganz verlohren; denn waͤre der Verluſt doch groͤßer, als der gaͤnzliche Mangel ſolcher Trau- erſpiehle der neueſten Art.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1012[994]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/441>, abgerufen am 16.05.2024.