Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Sta
Geten durch Drohungen zur Uuterwürfigkeit bewe-
gen wollte, ließen sie ihm sagen; sie fürchteten sich
in der Welt für nichts, als für das Einstürzen des
Himmels.
Dies ist stärker, als wenn sie gesagt
hätten; sie fürchteten sich schlechterdings für gar
nichts.

Die Stärke dienet sowol zur Ueberzeugung als
zur Rührung. Wo man keine Beweise für die
Wahrheit einer Sach anzuführen hat, sondern blos
durch Bejahung, oder Versicherung sie glaubwürdig
machen kann, da ist die Stärke des Ausdruks
das einzige Mittel die Zweifel zu vertreiben. Denn
man ist geneigt zu glauben, daß das, dessen man
uns mit ungewöhnlicher Stärke versichert, nicht er-
dichtet seyn könne. Eben so gewiß rühret man auch,
wenn man sein eigenes Gefühl stark an den Tag le-
gen kann. Es giebt zwar auch Fälle, wo beydes
Ueberzeugung und Rührung blos durch die höchste
Einfalt und den natürlichsten Ausdruk vollkommen
bewürkt werden, und wo es der Stärke nicht bedarf.
Aber diese rührende Einfalt ist noch schweerer zu er-
halten, als die Stärke; sie scheinet auch nicht von
so allgemeiner Würkung zu seyn, und kann nur vor
ganz verständigen Zuhörern mit Sicherheit des Er-
folges gebraucht werden. Die Stärke hingegen ist
von allgemeinerer Würkung. Was man eigentlich
hinreißende, überwältigende Beredsamkeit nennt,
besteht größtentheils in der Stärke der Gedanken
und des Ausdruks, die auch auf Zuhörer von
mittelmäßigem Verstand und Gefühl, ihre Wür-
kung thut.

Sie ist aber durch Kunst nicht zu erreichen, son-
dern hat ihren Grund in der lebhaften Ueberzeugung
und starken Rührung des Redners. Ein guter ehr-
licher Professor der Beredsamkeit fragte einsmals
den Genffer Roußeau wie er es doch mache, daß er
immer so überzeugend und so hinreißend schreibe.
"Jch, that er hinzu, bin ein Lehrer der Beredsam-
keit, der seit so viel Jahren alle Figuren, Tropen
und Wendungen der Rede studiret, und dennoch ist
es mir noch nie geglükt mit dem Nachdruk und der
Stärke zu schreiben, die Jhnen so natürlich schei-
net. -- Jch habe weiter kein Geheimnis und keine
Regel, antwortete Roußeau, als daß ich nichts be-
haupte, als das, von dem ich selbst lebhaft überzeu-
get bin, und nichts äußere, als was ich bey jeder
Sache würklich empfinde."

[Spaltenumbruch]
Sta

Darin besteht allerdings das ganze Geheimniß:
Aber diese lebhafte Ueberzeugung und dies starke
Gefühl selbst liegt in dem Genie des Redenden. Eine
Seele, der es an Kraft oder Energie fehlet, selbst
der größte Geist, der blos an subtiler und höchst ge-
nauer Zergliederung der Begriffe seine Nahrung fin-
det, diese können durch kein Studium zu der Stärke
gelangen, wovon hier die Red ist. Doch muß aller-
dings mit der natürlichen Kraft des Geistes und des
Herzens auch Uebung im Denken und Empfinden
verbunden werden. Erst denn, wenn uns das,
wovon wir sprechen, völlig bekannt und geläufig
ist, daß der speculative Verstand dabey nicht mehr
zu arbeiten hat, bekommen Verstand und Herz die
völlige, gänzliche Freyheit, lebhaft zu denken und
zu empfinden.

Es giebt auch eine falsche Stärke, die eine Art
der Schwulst ist, und der Rede keinen Nachdruk
giebt: Sie entstehet daher, daß man sich bey gerin-
gen, gleichgültigen Dingen großer, nachdrüklicher
und so gar hyperbolischer Ausdrüke bedienet, und
von gemeinen Dingen mit einer Art von Heftigkeit
spricht, die nicht aus dem Gefühl entsteht, sondern
eine blos durch üble Gewohnheit angenommene
kindische Gebehrdung (Gesticulation) ist. Jn der
französischen Sprache haben sich so viel übertriebene
Ausdrüke in die alltäglichen Redensarten eingeschli-
chen, daß man ofte bey ganz gleichgültigen Dingen
Worte höret, die Bewundrung, Entzükung, Be-
zauberung ausdrüken, und da der Redende betheuert
und schwöhrt, wo kein Mensch an dem, was er
sagt, zweifeln würde; wenn er es auch noch so schwach
und so nachläßig sagte. Eine solche gar unzeitige
Stärke macht die Rede völlig abgeschmakt.

Es verdienet auch noch angemerkt zu werden,
daß es eine blos äußerliche und gleichsam körperliche
Stärke giebt, die darum, weil sie die äußern Sin-
nen mit Gewalt angreift, von ausnehmender Kraft
auf die Gemüther ist. Ein einziger fröhlicher, trau-
riger, oder fürchterlicher Schrey, von einem Men-
schen, kann schon große Würkung auf uns haben:
Aber wenn wir ihn von hundert Stimmen zugleich
hören, so bekommt er eine völlig hinreißende Stärke.
Daher kommt es, daß man bisweilen in der Musik
blos durch sehr starke Besezung der Stimmen mit
einem mittelmäßigen Stük ungemein große Wür-
kung thun kann. Man kommt in der That dem Her-
zen am leichtesten durch Rührung der äußern Sinnen

bey.

[Spaltenumbruch]

Sta
Geten durch Drohungen zur Uuterwuͤrfigkeit bewe-
gen wollte, ließen ſie ihm ſagen; ſie fuͤrchteten ſich
in der Welt fuͤr nichts, als fuͤr das Einſtuͤrzen des
Himmels.
Dies iſt ſtaͤrker, als wenn ſie geſagt
haͤtten; ſie fuͤrchteten ſich ſchlechterdings fuͤr gar
nichts.

Die Staͤrke dienet ſowol zur Ueberzeugung als
zur Ruͤhrung. Wo man keine Beweiſe fuͤr die
Wahrheit einer Sach anzufuͤhren hat, ſondern blos
durch Bejahung, oder Verſicherung ſie glaubwuͤrdig
machen kann, da iſt die Staͤrke des Ausdruks
das einzige Mittel die Zweifel zu vertreiben. Denn
man iſt geneigt zu glauben, daß das, deſſen man
uns mit ungewoͤhnlicher Staͤrke verſichert, nicht er-
dichtet ſeyn koͤnne. Eben ſo gewiß ruͤhret man auch,
wenn man ſein eigenes Gefuͤhl ſtark an den Tag le-
gen kann. Es giebt zwar auch Faͤlle, wo beydes
Ueberzeugung und Ruͤhrung blos durch die hoͤchſte
Einfalt und den natuͤrlichſten Ausdruk vollkommen
bewuͤrkt werden, und wo es der Staͤrke nicht bedarf.
Aber dieſe ruͤhrende Einfalt iſt noch ſchweerer zu er-
halten, als die Staͤrke; ſie ſcheinet auch nicht von
ſo allgemeiner Wuͤrkung zu ſeyn, und kann nur vor
ganz verſtaͤndigen Zuhoͤrern mit Sicherheit des Er-
folges gebraucht werden. Die Staͤrke hingegen iſt
von allgemeinerer Wuͤrkung. Was man eigentlich
hinreißende, uͤberwaͤltigende Beredſamkeit nennt,
beſteht groͤßtentheils in der Staͤrke der Gedanken
und des Ausdruks, die auch auf Zuhoͤrer von
mittelmaͤßigem Verſtand und Gefuͤhl, ihre Wuͤr-
kung thut.

Sie iſt aber durch Kunſt nicht zu erreichen, ſon-
dern hat ihren Grund in der lebhaften Ueberzeugung
und ſtarken Ruͤhrung des Redners. Ein guter ehr-
licher Profeſſor der Beredſamkeit fragte einsmals
den Genffer Roußeau wie er es doch mache, daß er
immer ſo uͤberzeugend und ſo hinreißend ſchreibe.
„Jch, that er hinzu, bin ein Lehrer der Beredſam-
keit, der ſeit ſo viel Jahren alle Figuren, Tropen
und Wendungen der Rede ſtudiret, und dennoch iſt
es mir noch nie gegluͤkt mit dem Nachdruk und der
Staͤrke zu ſchreiben, die Jhnen ſo natuͤrlich ſchei-
net. — Jch habe weiter kein Geheimnis und keine
Regel, antwortete Roußeau, als daß ich nichts be-
haupte, als das, von dem ich ſelbſt lebhaft uͤberzeu-
get bin, und nichts aͤußere, als was ich bey jeder
Sache wuͤrklich empfinde.“

[Spaltenumbruch]
Sta

Darin beſteht allerdings das ganze Geheimniß:
Aber dieſe lebhafte Ueberzeugung und dies ſtarke
Gefuͤhl ſelbſt liegt in dem Genie des Redenden. Eine
Seele, der es an Kraft oder Energie fehlet, ſelbſt
der groͤßte Geiſt, der blos an ſubtiler und hoͤchſt ge-
nauer Zergliederung der Begriffe ſeine Nahrung fin-
det, dieſe koͤnnen durch kein Studium zu der Staͤrke
gelangen, wovon hier die Red iſt. Doch muß aller-
dings mit der natuͤrlichen Kraft des Geiſtes und des
Herzens auch Uebung im Denken und Empfinden
verbunden werden. Erſt denn, wenn uns das,
wovon wir ſprechen, voͤllig bekannt und gelaͤufig
iſt, daß der ſpeculative Verſtand dabey nicht mehr
zu arbeiten hat, bekommen Verſtand und Herz die
voͤllige, gaͤnzliche Freyheit, lebhaft zu denken und
zu empfinden.

Es giebt auch eine falſche Staͤrke, die eine Art
der Schwulſt iſt, und der Rede keinen Nachdruk
giebt: Sie entſtehet daher, daß man ſich bey gerin-
gen, gleichguͤltigen Dingen großer, nachdruͤklicher
und ſo gar hyperboliſcher Ausdruͤke bedienet, und
von gemeinen Dingen mit einer Art von Heftigkeit
ſpricht, die nicht aus dem Gefuͤhl entſteht, ſondern
eine blos durch uͤble Gewohnheit angenommene
kindiſche Gebehrdung (Geſticulation) iſt. Jn der
franzoͤſiſchen Sprache haben ſich ſo viel uͤbertriebene
Ausdruͤke in die alltaͤglichen Redensarten eingeſchli-
chen, daß man ofte bey ganz gleichguͤltigen Dingen
Worte hoͤret, die Bewundrung, Entzuͤkung, Be-
zauberung ausdruͤken, und da der Redende betheuert
und ſchwoͤhrt, wo kein Menſch an dem, was er
ſagt, zweifeln wuͤrde; wenn er es auch noch ſo ſchwach
und ſo nachlaͤßig ſagte. Eine ſolche gar unzeitige
Staͤrke macht die Rede voͤllig abgeſchmakt.

Es verdienet auch noch angemerkt zu werden,
daß es eine blos aͤußerliche und gleichſam koͤrperliche
Staͤrke giebt, die darum, weil ſie die aͤußern Sin-
nen mit Gewalt angreift, von ausnehmender Kraft
auf die Gemuͤther iſt. Ein einziger froͤhlicher, trau-
riger, oder fuͤrchterlicher Schrey, von einem Men-
ſchen, kann ſchon große Wuͤrkung auf uns haben:
Aber wenn wir ihn von hundert Stimmen zugleich
hoͤren, ſo bekommt er eine voͤllig hinreißende Staͤrke.
Daher kommt es, daß man bisweilen in der Muſik
blos durch ſehr ſtarke Beſezung der Stimmen mit
einem mittelmaͤßigen Stuͤk ungemein große Wuͤr-
kung thun kann. Man kommt in der That dem Her-
zen am leichteſten durch Ruͤhrung der aͤußern Sinnen

bey.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0534" n="1105[1087]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sta</hi></fw><lb/>
Geten durch Drohungen zur Uuterwu&#x0364;rfigkeit bewe-<lb/>
gen wollte, ließen &#x017F;ie ihm &#x017F;agen; <hi rendition="#fr">&#x017F;ie fu&#x0364;rchteten &#x017F;ich<lb/>
in der Welt fu&#x0364;r nichts, als fu&#x0364;r das Ein&#x017F;tu&#x0364;rzen des<lb/>
Himmels.</hi> Dies i&#x017F;t &#x017F;ta&#x0364;rker, als wenn &#x017F;ie ge&#x017F;agt<lb/>
ha&#x0364;tten; &#x017F;ie fu&#x0364;rchteten &#x017F;ich &#x017F;chlechterdings fu&#x0364;r gar<lb/>
nichts.</p><lb/>
          <p>Die Sta&#x0364;rke dienet &#x017F;owol zur Ueberzeugung als<lb/>
zur Ru&#x0364;hrung. Wo man keine Bewei&#x017F;e fu&#x0364;r die<lb/>
Wahrheit einer Sach anzufu&#x0364;hren hat, &#x017F;ondern blos<lb/>
durch Bejahung, oder Ver&#x017F;icherung &#x017F;ie glaubwu&#x0364;rdig<lb/>
machen kann, da i&#x017F;t die Sta&#x0364;rke des Ausdruks<lb/>
das einzige Mittel die Zweifel zu vertreiben. Denn<lb/>
man i&#x017F;t geneigt zu glauben, daß das, de&#x017F;&#x017F;en man<lb/>
uns mit ungewo&#x0364;hnlicher Sta&#x0364;rke ver&#x017F;ichert, nicht er-<lb/>
dichtet &#x017F;eyn ko&#x0364;nne. Eben &#x017F;o gewiß ru&#x0364;hret man auch,<lb/>
wenn man &#x017F;ein eigenes Gefu&#x0364;hl &#x017F;tark an den Tag le-<lb/>
gen kann. Es giebt zwar auch Fa&#x0364;lle, wo beydes<lb/>
Ueberzeugung und Ru&#x0364;hrung blos durch die ho&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Einfalt und den natu&#x0364;rlich&#x017F;ten Ausdruk vollkommen<lb/>
bewu&#x0364;rkt werden, und wo es der Sta&#x0364;rke nicht bedarf.<lb/>
Aber die&#x017F;e ru&#x0364;hrende Einfalt i&#x017F;t noch &#x017F;chweerer zu er-<lb/>
halten, als die Sta&#x0364;rke; &#x017F;ie &#x017F;cheinet auch nicht von<lb/>
&#x017F;o allgemeiner Wu&#x0364;rkung zu &#x017F;eyn, und kann nur vor<lb/>
ganz ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen Zuho&#x0364;rern mit Sicherheit des Er-<lb/>
folges gebraucht werden. Die Sta&#x0364;rke hingegen i&#x017F;t<lb/>
von allgemeinerer Wu&#x0364;rkung. Was man eigentlich<lb/>
hinreißende, u&#x0364;berwa&#x0364;ltigende Bered&#x017F;amkeit nennt,<lb/>
be&#x017F;teht gro&#x0364;ßtentheils in der Sta&#x0364;rke der Gedanken<lb/>
und des Ausdruks, die auch auf Zuho&#x0364;rer von<lb/>
mittelma&#x0364;ßigem Ver&#x017F;tand und Gefu&#x0364;hl, ihre Wu&#x0364;r-<lb/>
kung thut.</p><lb/>
          <p>Sie i&#x017F;t aber durch Kun&#x017F;t nicht zu erreichen, &#x017F;on-<lb/>
dern hat ihren Grund in der lebhaften Ueberzeugung<lb/>
und &#x017F;tarken Ru&#x0364;hrung des Redners. Ein guter ehr-<lb/>
licher Profe&#x017F;&#x017F;or der Bered&#x017F;amkeit fragte einsmals<lb/>
den Genffer Roußeau wie er es doch mache, daß er<lb/>
immer &#x017F;o u&#x0364;berzeugend und &#x017F;o hinreißend &#x017F;chreibe.<lb/>
&#x201E;Jch, that er hinzu, bin ein Lehrer der Bered&#x017F;am-<lb/>
keit, der &#x017F;eit &#x017F;o viel Jahren alle Figuren, Tropen<lb/>
und Wendungen der Rede &#x017F;tudiret, und dennoch i&#x017F;t<lb/>
es mir noch nie geglu&#x0364;kt mit dem Nachdruk und der<lb/>
Sta&#x0364;rke zu &#x017F;chreiben, die Jhnen &#x017F;o natu&#x0364;rlich &#x017F;chei-<lb/>
net. &#x2014; Jch habe weiter kein Geheimnis und keine<lb/>
Regel, antwortete Roußeau, als daß ich nichts be-<lb/>
haupte, als das, von dem ich &#x017F;elb&#x017F;t lebhaft u&#x0364;berzeu-<lb/>
get bin, und nichts a&#x0364;ußere, als was ich bey jeder<lb/>
Sache wu&#x0364;rklich empfinde.&#x201C;</p><lb/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Sta</hi> </fw><lb/>
          <p>Darin be&#x017F;teht allerdings das ganze Geheimniß:<lb/>
Aber die&#x017F;e lebhafte Ueberzeugung und dies &#x017F;tarke<lb/>
Gefu&#x0364;hl &#x017F;elb&#x017F;t liegt in dem Genie des Redenden. Eine<lb/>
Seele, der es an Kraft oder Energie fehlet, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der gro&#x0364;ßte Gei&#x017F;t, der blos an &#x017F;ubtiler und ho&#x0364;ch&#x017F;t ge-<lb/>
nauer Zergliederung der Begriffe &#x017F;eine Nahrung fin-<lb/>
det, die&#x017F;e ko&#x0364;nnen durch kein Studium zu der Sta&#x0364;rke<lb/>
gelangen, wovon hier die Red i&#x017F;t. Doch muß aller-<lb/>
dings mit der natu&#x0364;rlichen Kraft des Gei&#x017F;tes und des<lb/>
Herzens auch Uebung im Denken und Empfinden<lb/>
verbunden werden. Er&#x017F;t denn, wenn uns das,<lb/>
wovon wir &#x017F;prechen, vo&#x0364;llig bekannt und gela&#x0364;ufig<lb/>
i&#x017F;t, daß der &#x017F;peculative Ver&#x017F;tand dabey nicht mehr<lb/>
zu arbeiten hat, bekommen Ver&#x017F;tand und Herz die<lb/>
vo&#x0364;llige, ga&#x0364;nzliche Freyheit, lebhaft zu denken und<lb/>
zu empfinden.</p><lb/>
          <p>Es giebt auch eine fal&#x017F;che Sta&#x0364;rke, die eine Art<lb/>
der Schwul&#x017F;t i&#x017F;t, und der Rede keinen Nachdruk<lb/>
giebt: Sie ent&#x017F;tehet daher, daß man &#x017F;ich bey gerin-<lb/>
gen, gleichgu&#x0364;ltigen Dingen großer, nachdru&#x0364;klicher<lb/>
und &#x017F;o gar hyperboli&#x017F;cher Ausdru&#x0364;ke bedienet, und<lb/>
von gemeinen Dingen mit einer Art von Heftigkeit<lb/>
&#x017F;pricht, die nicht aus dem Gefu&#x0364;hl ent&#x017F;teht, &#x017F;ondern<lb/>
eine blos durch u&#x0364;ble Gewohnheit angenommene<lb/>
kindi&#x017F;che Gebehrdung (Ge&#x017F;ticulation) i&#x017F;t. Jn der<lb/>
franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Sprache haben &#x017F;ich &#x017F;o viel u&#x0364;bertriebene<lb/>
Ausdru&#x0364;ke in die allta&#x0364;glichen Redensarten einge&#x017F;chli-<lb/>
chen, daß man ofte bey ganz gleichgu&#x0364;ltigen Dingen<lb/>
Worte ho&#x0364;ret, die Bewundrung, Entzu&#x0364;kung, Be-<lb/>
zauberung ausdru&#x0364;ken, und da der Redende betheuert<lb/>
und &#x017F;chwo&#x0364;hrt, wo kein Men&#x017F;ch an dem, was er<lb/>
&#x017F;agt, zweifeln wu&#x0364;rde; wenn er es auch noch &#x017F;o &#x017F;chwach<lb/>
und &#x017F;o nachla&#x0364;ßig &#x017F;agte. Eine &#x017F;olche gar unzeitige<lb/>
Sta&#x0364;rke macht die Rede vo&#x0364;llig abge&#x017F;chmakt.</p><lb/>
          <p>Es verdienet auch noch angemerkt zu werden,<lb/>
daß es eine blos a&#x0364;ußerliche und gleich&#x017F;am ko&#x0364;rperliche<lb/>
Sta&#x0364;rke giebt, die darum, weil &#x017F;ie die a&#x0364;ußern Sin-<lb/>
nen mit Gewalt angreift, von ausnehmender Kraft<lb/>
auf die Gemu&#x0364;ther i&#x017F;t. Ein einziger fro&#x0364;hlicher, trau-<lb/>
riger, oder fu&#x0364;rchterlicher Schrey, von einem Men-<lb/>
&#x017F;chen, kann &#x017F;chon große Wu&#x0364;rkung auf uns haben:<lb/>
Aber wenn wir ihn von hundert Stimmen zugleich<lb/>
ho&#x0364;ren, &#x017F;o bekommt er eine vo&#x0364;llig hinreißende Sta&#x0364;rke.<lb/>
Daher kommt es, daß man bisweilen in der Mu&#x017F;ik<lb/>
blos durch &#x017F;ehr &#x017F;tarke Be&#x017F;ezung der Stimmen mit<lb/>
einem mittelma&#x0364;ßigen Stu&#x0364;k ungemein große Wu&#x0364;r-<lb/>
kung thun kann. Man kommt in der That dem Her-<lb/>
zen am leichte&#x017F;ten durch Ru&#x0364;hrung der a&#x0364;ußern Sinnen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bey.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1105[1087]/0534] Sta Sta Geten durch Drohungen zur Uuterwuͤrfigkeit bewe- gen wollte, ließen ſie ihm ſagen; ſie fuͤrchteten ſich in der Welt fuͤr nichts, als fuͤr das Einſtuͤrzen des Himmels. Dies iſt ſtaͤrker, als wenn ſie geſagt haͤtten; ſie fuͤrchteten ſich ſchlechterdings fuͤr gar nichts. Die Staͤrke dienet ſowol zur Ueberzeugung als zur Ruͤhrung. Wo man keine Beweiſe fuͤr die Wahrheit einer Sach anzufuͤhren hat, ſondern blos durch Bejahung, oder Verſicherung ſie glaubwuͤrdig machen kann, da iſt die Staͤrke des Ausdruks das einzige Mittel die Zweifel zu vertreiben. Denn man iſt geneigt zu glauben, daß das, deſſen man uns mit ungewoͤhnlicher Staͤrke verſichert, nicht er- dichtet ſeyn koͤnne. Eben ſo gewiß ruͤhret man auch, wenn man ſein eigenes Gefuͤhl ſtark an den Tag le- gen kann. Es giebt zwar auch Faͤlle, wo beydes Ueberzeugung und Ruͤhrung blos durch die hoͤchſte Einfalt und den natuͤrlichſten Ausdruk vollkommen bewuͤrkt werden, und wo es der Staͤrke nicht bedarf. Aber dieſe ruͤhrende Einfalt iſt noch ſchweerer zu er- halten, als die Staͤrke; ſie ſcheinet auch nicht von ſo allgemeiner Wuͤrkung zu ſeyn, und kann nur vor ganz verſtaͤndigen Zuhoͤrern mit Sicherheit des Er- folges gebraucht werden. Die Staͤrke hingegen iſt von allgemeinerer Wuͤrkung. Was man eigentlich hinreißende, uͤberwaͤltigende Beredſamkeit nennt, beſteht groͤßtentheils in der Staͤrke der Gedanken und des Ausdruks, die auch auf Zuhoͤrer von mittelmaͤßigem Verſtand und Gefuͤhl, ihre Wuͤr- kung thut. Sie iſt aber durch Kunſt nicht zu erreichen, ſon- dern hat ihren Grund in der lebhaften Ueberzeugung und ſtarken Ruͤhrung des Redners. Ein guter ehr- licher Profeſſor der Beredſamkeit fragte einsmals den Genffer Roußeau wie er es doch mache, daß er immer ſo uͤberzeugend und ſo hinreißend ſchreibe. „Jch, that er hinzu, bin ein Lehrer der Beredſam- keit, der ſeit ſo viel Jahren alle Figuren, Tropen und Wendungen der Rede ſtudiret, und dennoch iſt es mir noch nie gegluͤkt mit dem Nachdruk und der Staͤrke zu ſchreiben, die Jhnen ſo natuͤrlich ſchei- net. — Jch habe weiter kein Geheimnis und keine Regel, antwortete Roußeau, als daß ich nichts be- haupte, als das, von dem ich ſelbſt lebhaft uͤberzeu- get bin, und nichts aͤußere, als was ich bey jeder Sache wuͤrklich empfinde.“ Darin beſteht allerdings das ganze Geheimniß: Aber dieſe lebhafte Ueberzeugung und dies ſtarke Gefuͤhl ſelbſt liegt in dem Genie des Redenden. Eine Seele, der es an Kraft oder Energie fehlet, ſelbſt der groͤßte Geiſt, der blos an ſubtiler und hoͤchſt ge- nauer Zergliederung der Begriffe ſeine Nahrung fin- det, dieſe koͤnnen durch kein Studium zu der Staͤrke gelangen, wovon hier die Red iſt. Doch muß aller- dings mit der natuͤrlichen Kraft des Geiſtes und des Herzens auch Uebung im Denken und Empfinden verbunden werden. Erſt denn, wenn uns das, wovon wir ſprechen, voͤllig bekannt und gelaͤufig iſt, daß der ſpeculative Verſtand dabey nicht mehr zu arbeiten hat, bekommen Verſtand und Herz die voͤllige, gaͤnzliche Freyheit, lebhaft zu denken und zu empfinden. Es giebt auch eine falſche Staͤrke, die eine Art der Schwulſt iſt, und der Rede keinen Nachdruk giebt: Sie entſtehet daher, daß man ſich bey gerin- gen, gleichguͤltigen Dingen großer, nachdruͤklicher und ſo gar hyperboliſcher Ausdruͤke bedienet, und von gemeinen Dingen mit einer Art von Heftigkeit ſpricht, die nicht aus dem Gefuͤhl entſteht, ſondern eine blos durch uͤble Gewohnheit angenommene kindiſche Gebehrdung (Geſticulation) iſt. Jn der franzoͤſiſchen Sprache haben ſich ſo viel uͤbertriebene Ausdruͤke in die alltaͤglichen Redensarten eingeſchli- chen, daß man ofte bey ganz gleichguͤltigen Dingen Worte hoͤret, die Bewundrung, Entzuͤkung, Be- zauberung ausdruͤken, und da der Redende betheuert und ſchwoͤhrt, wo kein Menſch an dem, was er ſagt, zweifeln wuͤrde; wenn er es auch noch ſo ſchwach und ſo nachlaͤßig ſagte. Eine ſolche gar unzeitige Staͤrke macht die Rede voͤllig abgeſchmakt. Es verdienet auch noch angemerkt zu werden, daß es eine blos aͤußerliche und gleichſam koͤrperliche Staͤrke giebt, die darum, weil ſie die aͤußern Sin- nen mit Gewalt angreift, von ausnehmender Kraft auf die Gemuͤther iſt. Ein einziger froͤhlicher, trau- riger, oder fuͤrchterlicher Schrey, von einem Men- ſchen, kann ſchon große Wuͤrkung auf uns haben: Aber wenn wir ihn von hundert Stimmen zugleich hoͤren, ſo bekommt er eine voͤllig hinreißende Staͤrke. Daher kommt es, daß man bisweilen in der Muſik blos durch ſehr ſtarke Beſezung der Stimmen mit einem mittelmaͤßigen Stuͤk ungemein große Wuͤr- kung thun kann. Man kommt in der That dem Her- zen am leichteſten durch Ruͤhrung der aͤußern Sinnen bey.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/534
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1105[1087]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/534>, abgerufen am 16.05.2024.