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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Vor
seine Finger sich bewegen sehen: Was sind doch
alle heutigen Schwierigkeiten auf allen Jnstrumen-
ten und allen Singstimmen gegen die, die dieser
Mann vor dreyßig Jahren auf dem Clavier und
auf der Orgel vorgetragen hat? Eher ließen sich
gewisse leichte Bewegungen, die die Empfindung,
wovon der Künstler beseelt ist, ihn ohne sein Wissen
ablokt, entschuldigen. Aber weit gefehlt, daß wir
dem jungen Künstler hierauf aufmerksam machen
sollten, rathen wir ihm vielmehr, sich gleich an-
fangs an eine ruhige und anständige Stellung zu ge-
wöhnen, und sich nicht mehr zu bewegen, als un-
umgänglich zu dem Vortrag nöthig ist. Jeder-
mann wird ihn alsdenn, wenn sein Vortrag sonst
gut ist, mit desto mehr Vergnügen zuhören, und
zusehen. Daß diese Anmerkung dem Theatersänger
nicht angehe, bedarf wol keiner Erklärung.
Diese Annehmlichkeiten gehen den Vortrag über-
haupt an, und sind bey allen Stüken von allem
und jedem Charakter und Ausdruk von gleicher Er-
heblichkeit. Ganz anders verhält es sich mit den
Verzierungen. Hierunter gehören 1) alle Manie-
ren, die der Tonsezer nicht angezeiget hat, und Ver-
änderungen ganzer Säze; diese können nur in ge-
wissen Stüken, wo sie würklich zur Verschönerung
des Ausdruks dienen, angebracht werden: derglei-
chen sind die von zärtlichem, gefälligem, munterm
Charakter und Ausdruk. Jn solchen Stüken kön-
nen gute Verzierungen wesentlich werden. Sie
müssen aber mit Maaße und nur da angebracht
werden, wo der Tonsezer einen schiklichen Ort für
sie gelassen hat; sie müssen von Bedeutung seyn,
und den Charakter und Ausdruk des Ganzen anneh-
men, nicht alltägliche Schlendrians, die allenthal-
ben angebracht werden können, und nirgends von
Bedeutung sind; sie müssen serner nicht wieder die
Regeln des reinen Sazes stoßen; sie müssen endlich
mit der größten Delikatesse vorgetragen werden.
Hiezu gehört aber Fertigkeit, Geschmak und Kennt-
nis der Harmonie. Wer diese nicht in einem hohen
Grade besizt, sollt es sich niemals einfallen lassen,
Veränderungen in ein Stük anzubringen; statt den
Ausdruk zu verschönern, wird er ihn vielmehr ver-
unstalten. Der Zuhörer von großem Geschmak
hält sich überhaupt an dem Wesentlichen des Aus-
druks, und hört auf die Verzierungen der Melodie
nur obenhin, wenn sie gut sind; aber er wird aufs
höchste unwillig, wenn sie nur einigermaaßen schlecht
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Vor
sind. Dann giebt es Melodien, die schon an und
für sich so schön sind, daß der geringste Zusaz von
fremder Schönheit, ihnen alle eigenthümliche Schön-
heit benimmt. Ja einige Tonsezer sind in ihrer
Schreibart so exakt, daß sie alle und jede Verzierun-
gen selbst anzeigen, und in Noten aussezen: wer-
den hier Manteren auf Manieren, Veränderungen
auf Veränderungen gehäuft, so kömmt eine baroke
Schönheit zum Vorschein, die mit Schellen und
tausend bunten Farben behangen ist. Ueberhaupt
vertragen alle Stüke von pathetischem, großem und
ernsthaftem Charakter und Ausdruk, die schweer und
nachdrüklich vorgetragen seyn wollen, durchaus
keine Verzierungen. Bey diesen ist es Schönheit,
daß sie gerade so vorgetragen werden, als sie ge-
schrieben sind; zumal strenge und ausgearbeitete
Stüke: desgleichen alle Stüke von sehr rührendem
Ausdruk; es sey denn, daß der Tonsezer eine nach-
läßige Schreibart affektirt, wo gewisse kleine Ver-
änderungen der vorgeschriebenen Melodie, und hin-
zugefügte Manieren, des guten Gesanges wegen,
nothwendig werden.
2) Die Fermaten und Cadenzen. Wir wollen
hier weder untersuchen, in wie fern sie überhaupt
natürlich oder unnatürlich, dem Ausdruk zum Scha-
den oder Nuzen sind, noch darüber seufzen, wie
sehr ihr übertriebener Gebrauch wieder alle gesunde
Vernunft streitet (*). Das Uebel ist einmal einge-
rissen: Jeder Sänger oder Spieler will zeigen, daß
er Fermaten und Cadenzen machen kann. Es ist
wahr, sie werden ihm insgemein von dem Tonsezer
angezeiget; aber da die Ausführung derselben ledig-
lich seiner Phantasie überlassen ist, so ist offenbar,
daß der Tonsezer bey dem Zeichen derselben nichts
weiter denket, als: da doch Fermaten und Caden-
zen gemacht werden müssen, so mag es hier gesche-
hen. Sie sind folglich zum Ausdruk nicht noth-
wendig, und gehören unter die Verzierungen des
Gesanges. Will der Sänger oder Spiehler nun
würklich einen guten Gebrauch hievon machen, so
muß es ihm nicht gleich seyn, wie er sie mache,
vielweniger muß er dabey blos die Fertigkeit seiner
Kehle oder seiner Finger zeigen wollen, denn da-
durch wird er den Seiltänzern ähnlich: sondern
er muß ihnen den Charakter und Ausdruk des gan-
zen Stüks geben, und alles weglassen, was in die-
sem Charakter und Ausdruk nicht einstimmet; da-
neben müssen sie einen wolklingenden, singenden
und
(*) S.
Cadenz.
S. 188.
[Spaltenumbruch]
Vor
ſeine Finger ſich bewegen ſehen: Was ſind doch
alle heutigen Schwierigkeiten auf allen Jnſtrumen-
ten und allen Singſtimmen gegen die, die dieſer
Mann vor dreyßig Jahren auf dem Clavier und
auf der Orgel vorgetragen hat? Eher ließen ſich
gewiſſe leichte Bewegungen, die die Empfindung,
wovon der Kuͤnſtler beſeelt iſt, ihn ohne ſein Wiſſen
ablokt, entſchuldigen. Aber weit gefehlt, daß wir
dem jungen Kuͤnſtler hierauf aufmerkſam machen
ſollten, rathen wir ihm vielmehr, ſich gleich an-
fangs an eine ruhige und anſtaͤndige Stellung zu ge-
woͤhnen, und ſich nicht mehr zu bewegen, als un-
umgaͤnglich zu dem Vortrag noͤthig iſt. Jeder-
mann wird ihn alsdenn, wenn ſein Vortrag ſonſt
gut iſt, mit deſto mehr Vergnuͤgen zuhoͤren, und
zuſehen. Daß dieſe Anmerkung dem Theaterſaͤnger
nicht angehe, bedarf wol keiner Erklaͤrung.
Dieſe Annehmlichkeiten gehen den Vortrag uͤber-
haupt an, und ſind bey allen Stuͤken von allem
und jedem Charakter und Ausdruk von gleicher Er-
heblichkeit. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit den
Verzierungen. Hierunter gehoͤren 1) alle Manie-
ren, die der Tonſezer nicht angezeiget hat, und Ver-
aͤnderungen ganzer Saͤze; dieſe koͤnnen nur in ge-
wiſſen Stuͤken, wo ſie wuͤrklich zur Verſchoͤnerung
des Ausdruks dienen, angebracht werden: derglei-
chen ſind die von zaͤrtlichem, gefaͤlligem, munterm
Charakter und Ausdruk. Jn ſolchen Stuͤken koͤn-
nen gute Verzierungen weſentlich werden. Sie
muͤſſen aber mit Maaße und nur da angebracht
werden, wo der Tonſezer einen ſchiklichen Ort fuͤr
ſie gelaſſen hat; ſie muͤſſen von Bedeutung ſeyn,
und den Charakter und Ausdruk des Ganzen anneh-
men, nicht alltaͤgliche Schlendrians, die allenthal-
ben angebracht werden koͤnnen, und nirgends von
Bedeutung ſind; ſie muͤſſen ſerner nicht wieder die
Regeln des reinen Sazes ſtoßen; ſie muͤſſen endlich
mit der groͤßten Delikateſſe vorgetragen werden.
Hiezu gehoͤrt aber Fertigkeit, Geſchmak und Kennt-
nis der Harmonie. Wer dieſe nicht in einem hohen
Grade beſizt, ſollt es ſich niemals einfallen laſſen,
Veraͤnderungen in ein Stuͤk anzubringen; ſtatt den
Ausdruk zu verſchoͤnern, wird er ihn vielmehr ver-
unſtalten. Der Zuhoͤrer von großem Geſchmak
haͤlt ſich uͤberhaupt an dem Weſentlichen des Aus-
druks, und hoͤrt auf die Verzierungen der Melodie
nur obenhin, wenn ſie gut ſind; aber er wird aufs
hoͤchſte unwillig, wenn ſie nur einigermaaßen ſchlecht
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Vor
ſind. Dann giebt es Melodien, die ſchon an und
fuͤr ſich ſo ſchoͤn ſind, daß der geringſte Zuſaz von
fremder Schoͤnheit, ihnen alle eigenthuͤmliche Schoͤn-
heit benimmt. Ja einige Tonſezer ſind in ihrer
Schreibart ſo exakt, daß ſie alle und jede Verzierun-
gen ſelbſt anzeigen, und in Noten ausſezen: wer-
den hier Manteren auf Manieren, Veraͤnderungen
auf Veraͤnderungen gehaͤuft, ſo koͤmmt eine baroke
Schoͤnheit zum Vorſchein, die mit Schellen und
tauſend bunten Farben behangen iſt. Ueberhaupt
vertragen alle Stuͤke von pathetiſchem, großem und
ernſthaftem Charakter und Ausdruk, die ſchweer und
nachdruͤklich vorgetragen ſeyn wollen, durchaus
keine Verzierungen. Bey dieſen iſt es Schoͤnheit,
daß ſie gerade ſo vorgetragen werden, als ſie ge-
ſchrieben ſind; zumal ſtrenge und ausgearbeitete
Stuͤke: desgleichen alle Stuͤke von ſehr ruͤhrendem
Ausdruk; es ſey denn, daß der Tonſezer eine nach-
laͤßige Schreibart affektirt, wo gewiſſe kleine Ver-
aͤnderungen der vorgeſchriebenen Melodie, und hin-
zugefuͤgte Manieren, des guten Geſanges wegen,
nothwendig werden.
2) Die Fermaten und Cadenzen. Wir wollen
hier weder unterſuchen, in wie fern ſie uͤberhaupt
natuͤrlich oder unnatuͤrlich, dem Ausdruk zum Scha-
den oder Nuzen ſind, noch daruͤber ſeufzen, wie
ſehr ihr uͤbertriebener Gebrauch wieder alle geſunde
Vernunft ſtreitet (*). Das Uebel iſt einmal einge-
riſſen: Jeder Saͤnger oder Spieler will zeigen, daß
er Fermaten und Cadenzen machen kann. Es iſt
wahr, ſie werden ihm insgemein von dem Tonſezer
angezeiget; aber da die Ausfuͤhrung derſelben ledig-
lich ſeiner Phantaſie uͤberlaſſen iſt, ſo iſt offenbar,
daß der Tonſezer bey dem Zeichen derſelben nichts
weiter denket, als: da doch Fermaten und Caden-
zen gemacht werden muͤſſen, ſo mag es hier geſche-
hen. Sie ſind folglich zum Ausdruk nicht noth-
wendig, und gehoͤren unter die Verzierungen des
Geſanges. Will der Saͤnger oder Spiehler nun
wuͤrklich einen guten Gebrauch hievon machen, ſo
muß es ihm nicht gleich ſeyn, wie er ſie mache,
vielweniger muß er dabey blos die Fertigkeit ſeiner
Kehle oder ſeiner Finger zeigen wollen, denn da-
durch wird er den Seiltaͤnzern aͤhnlich: ſondern
er muß ihnen den Charakter und Ausdruk des gan-
zen Stuͤks geben, und alles weglaſſen, was in die-
ſem Charakter und Ausdruk nicht einſtimmet; da-
neben muͤſſen ſie einen wolklingenden, ſingenden
und
(*) S.
Cadenz.
S. 188.
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[1257[1239]/0686] Vor Vor ſeine Finger ſich bewegen ſehen: Was ſind doch alle heutigen Schwierigkeiten auf allen Jnſtrumen- ten und allen Singſtimmen gegen die, die dieſer Mann vor dreyßig Jahren auf dem Clavier und auf der Orgel vorgetragen hat? Eher ließen ſich gewiſſe leichte Bewegungen, die die Empfindung, wovon der Kuͤnſtler beſeelt iſt, ihn ohne ſein Wiſſen ablokt, entſchuldigen. Aber weit gefehlt, daß wir dem jungen Kuͤnſtler hierauf aufmerkſam machen ſollten, rathen wir ihm vielmehr, ſich gleich an- fangs an eine ruhige und anſtaͤndige Stellung zu ge- woͤhnen, und ſich nicht mehr zu bewegen, als un- umgaͤnglich zu dem Vortrag noͤthig iſt. Jeder- mann wird ihn alsdenn, wenn ſein Vortrag ſonſt gut iſt, mit deſto mehr Vergnuͤgen zuhoͤren, und zuſehen. Daß dieſe Anmerkung dem Theaterſaͤnger nicht angehe, bedarf wol keiner Erklaͤrung. Dieſe Annehmlichkeiten gehen den Vortrag uͤber- haupt an, und ſind bey allen Stuͤken von allem und jedem Charakter und Ausdruk von gleicher Er- heblichkeit. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit den Verzierungen. Hierunter gehoͤren 1) alle Manie- ren, die der Tonſezer nicht angezeiget hat, und Ver- aͤnderungen ganzer Saͤze; dieſe koͤnnen nur in ge- wiſſen Stuͤken, wo ſie wuͤrklich zur Verſchoͤnerung des Ausdruks dienen, angebracht werden: derglei- chen ſind die von zaͤrtlichem, gefaͤlligem, munterm Charakter und Ausdruk. Jn ſolchen Stuͤken koͤn- nen gute Verzierungen weſentlich werden. Sie muͤſſen aber mit Maaße und nur da angebracht werden, wo der Tonſezer einen ſchiklichen Ort fuͤr ſie gelaſſen hat; ſie muͤſſen von Bedeutung ſeyn, und den Charakter und Ausdruk des Ganzen anneh- men, nicht alltaͤgliche Schlendrians, die allenthal- ben angebracht werden koͤnnen, und nirgends von Bedeutung ſind; ſie muͤſſen ſerner nicht wieder die Regeln des reinen Sazes ſtoßen; ſie muͤſſen endlich mit der groͤßten Delikateſſe vorgetragen werden. Hiezu gehoͤrt aber Fertigkeit, Geſchmak und Kennt- nis der Harmonie. Wer dieſe nicht in einem hohen Grade beſizt, ſollt es ſich niemals einfallen laſſen, Veraͤnderungen in ein Stuͤk anzubringen; ſtatt den Ausdruk zu verſchoͤnern, wird er ihn vielmehr ver- unſtalten. Der Zuhoͤrer von großem Geſchmak haͤlt ſich uͤberhaupt an dem Weſentlichen des Aus- druks, und hoͤrt auf die Verzierungen der Melodie nur obenhin, wenn ſie gut ſind; aber er wird aufs hoͤchſte unwillig, wenn ſie nur einigermaaßen ſchlecht ſind. Dann giebt es Melodien, die ſchon an und fuͤr ſich ſo ſchoͤn ſind, daß der geringſte Zuſaz von fremder Schoͤnheit, ihnen alle eigenthuͤmliche Schoͤn- heit benimmt. Ja einige Tonſezer ſind in ihrer Schreibart ſo exakt, daß ſie alle und jede Verzierun- gen ſelbſt anzeigen, und in Noten ausſezen: wer- den hier Manteren auf Manieren, Veraͤnderungen auf Veraͤnderungen gehaͤuft, ſo koͤmmt eine baroke Schoͤnheit zum Vorſchein, die mit Schellen und tauſend bunten Farben behangen iſt. Ueberhaupt vertragen alle Stuͤke von pathetiſchem, großem und ernſthaftem Charakter und Ausdruk, die ſchweer und nachdruͤklich vorgetragen ſeyn wollen, durchaus keine Verzierungen. Bey dieſen iſt es Schoͤnheit, daß ſie gerade ſo vorgetragen werden, als ſie ge- ſchrieben ſind; zumal ſtrenge und ausgearbeitete Stuͤke: desgleichen alle Stuͤke von ſehr ruͤhrendem Ausdruk; es ſey denn, daß der Tonſezer eine nach- laͤßige Schreibart affektirt, wo gewiſſe kleine Ver- aͤnderungen der vorgeſchriebenen Melodie, und hin- zugefuͤgte Manieren, des guten Geſanges wegen, nothwendig werden. 2) Die Fermaten und Cadenzen. Wir wollen hier weder unterſuchen, in wie fern ſie uͤberhaupt natuͤrlich oder unnatuͤrlich, dem Ausdruk zum Scha- den oder Nuzen ſind, noch daruͤber ſeufzen, wie ſehr ihr uͤbertriebener Gebrauch wieder alle geſunde Vernunft ſtreitet (*). Das Uebel iſt einmal einge- riſſen: Jeder Saͤnger oder Spieler will zeigen, daß er Fermaten und Cadenzen machen kann. Es iſt wahr, ſie werden ihm insgemein von dem Tonſezer angezeiget; aber da die Ausfuͤhrung derſelben ledig- lich ſeiner Phantaſie uͤberlaſſen iſt, ſo iſt offenbar, daß der Tonſezer bey dem Zeichen derſelben nichts weiter denket, als: da doch Fermaten und Caden- zen gemacht werden muͤſſen, ſo mag es hier geſche- hen. Sie ſind folglich zum Ausdruk nicht noth- wendig, und gehoͤren unter die Verzierungen des Geſanges. Will der Saͤnger oder Spiehler nun wuͤrklich einen guten Gebrauch hievon machen, ſo muß es ihm nicht gleich ſeyn, wie er ſie mache, vielweniger muß er dabey blos die Fertigkeit ſeiner Kehle oder ſeiner Finger zeigen wollen, denn da- durch wird er den Seiltaͤnzern aͤhnlich: ſondern er muß ihnen den Charakter und Ausdruk des gan- zen Stuͤks geben, und alles weglaſſen, was in die- ſem Charakter und Ausdruk nicht einſtimmet; da- neben muͤſſen ſie einen wolklingenden, ſingenden und (*) S. Cadenz. S. 188.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1257[1239]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/686>, abgerufen am 16.05.2024.