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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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2.
William Lovell an Eduard Burton.


Ich schreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths-
hause hinter York, es ist Nacht und Karl
schläft im Nebenzimmer, -- alles umher ist feier-
lich und still, die Klocke eines entfernten Dorfes
tönt manchmal wie Grabgeläute zu mir her-
über. --

Einsam sitz' ich hier, wie ein Elender, der
aus einem goldenen Traume in seiner engen
Hütte erwacht. -- Die schmelzenden Accorde
der Symphonie sind geschlossen, das Theater ist
zugefallen, ein Licht nach dem andern verlöscht. --
In diesem Gefühle schreib' ich Dir, Freund,
Bruder, meine Seele sucht Theilnahme und fin-
det sie bei Dir am reinsten und wärmsten.

Ich bin nie so aufmerksam als in diesen Au-
genblicken darauf gewesen, wie von einem kleinen
Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft
die Wendung unsers Charakters abhängt. Ein
unmerklicher Schlag richtet und formt unsern
Geist oft anders; wer kennt die Regeln, nach

2.
William Lovell an Eduard Burton.


Ich ſchreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths-
hauſe hinter York, es iſt Nacht und Karl
ſchlaͤft im Nebenzimmer, — alles umher iſt feier-
lich und ſtill, die Klocke eines entfernten Dorfes
toͤnt manchmal wie Grabgelaͤute zu mir her-
uͤber. —

Einſam ſitz’ ich hier, wie ein Elender, der
aus einem goldenen Traume in ſeiner engen
Huͤtte erwacht. — Die ſchmelzenden Accorde
der Symphonie ſind geſchloſſen, das Theater iſt
zugefallen, ein Licht nach dem andern verloͤſcht. —
In dieſem Gefuͤhle ſchreib’ ich Dir, Freund,
Bruder, meine Seele ſucht Theilnahme und fin-
det ſie bei Dir am reinſten und waͤrmſten.

Ich bin nie ſo aufmerkſam als in dieſen Au-
genblicken darauf geweſen, wie von einem kleinen
Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft
die Wendung unſers Charakters abhaͤngt. Ein
unmerklicher Schlag richtet und formt unſern
Geiſt oft anders; wer kennt die Regeln, nach

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[18[16]/0026] 2. William Lovell an Eduard Burton. am 18ten May — Ich ſchreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths- hauſe hinter York, es iſt Nacht und Karl ſchlaͤft im Nebenzimmer, — alles umher iſt feier- lich und ſtill, die Klocke eines entfernten Dorfes toͤnt manchmal wie Grabgelaͤute zu mir her- uͤber. — Einſam ſitz’ ich hier, wie ein Elender, der aus einem goldenen Traume in ſeiner engen Huͤtte erwacht. — Die ſchmelzenden Accorde der Symphonie ſind geſchloſſen, das Theater iſt zugefallen, ein Licht nach dem andern verloͤſcht. — In dieſem Gefuͤhle ſchreib’ ich Dir, Freund, Bruder, meine Seele ſucht Theilnahme und fin- det ſie bei Dir am reinſten und waͤrmſten. Ich bin nie ſo aufmerkſam als in dieſen Au- genblicken darauf geweſen, wie von einem kleinen Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft die Wendung unſers Charakters abhaͤngt. Ein unmerklicher Schlag richtet und formt unſern Geiſt oft anders; wer kennt die Regeln, nach

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 18[16]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/26>, abgerufen am 20.04.2024.