Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
15.
Mortimer an den Grafen Melun.


Ihr Brief, lieber Graf, hat mich sehr betrübt;
Sie gehören zu jenen Leuten, die es ganz ver-
dienen, in der vollesten Bedeutung des Worts
glücklich zu seyn; daß Sie es aber so wenig
sind, schmerzt mich innig. -- Es ist aber mög-
lich, und ich wünsche, daß es so seyn möge,
daß Ihre Phantasie einen großen Theil Ih-
rer Leiden ausmacht. Sie hatten sich vielleicht
einen Plan entworfen, der zu schön war, um
realisirt werden zu können: da Sie sich nun
in Ihrer Hofnung getäuscht sehn, so erscheint
Ihnen jedes Ding trübe und finster. -- Viel-
leicht ist alles anders und besser, wenn Sie die
Sache ansehn, so wie sie ist; der Mensch ist
so eneigt, sich allenthalben sein Unglück zu ver-
größern, daß man nur selten dem Berichte des
Erzählers ganz vertrauen kann. -- Ich wünschte,
ich wäre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch

Lovell, I. Bd. T
15.
Mortimer an den Grafen Melun.


Ihr Brief, lieber Graf, hat mich ſehr betruͤbt;
Sie gehoͤren zu jenen Leuten, die es ganz ver-
dienen, in der volleſten Bedeutung des Worts
gluͤcklich zu ſeyn; daß Sie es aber ſo wenig
ſind, ſchmerzt mich innig. — Es iſt aber moͤg-
lich, und ich wuͤnſche, daß es ſo ſeyn moͤge,
daß Ihre Phantaſie einen großen Theil Ih-
rer Leiden ausmacht. Sie hatten ſich vielleicht
einen Plan entworfen, der zu ſchoͤn war, um
realiſirt werden zu koͤnnen: da Sie ſich nun
in Ihrer Hofnung getaͤuſcht ſehn, ſo erſcheint
Ihnen jedes Ding truͤbe und finſter. — Viel-
leicht iſt alles anders und beſſer, wenn Sie die
Sache anſehn, ſo wie ſie iſt; der Menſch iſt
ſo eneigt, ſich allenthalben ſein Ungluͤck zu ver-
groͤßern, daß man nur ſelten dem Berichte des
Erzaͤhlers ganz vertrauen kann. — Ich wuͤnſchte,
ich waͤre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch

Lovell, I. Bd. T
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0297" n="289[287]"/>
        <div n="2">
          <head>15.<lb/>
Mortimer an den Grafen Melun.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">London.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">I</hi>hr Brief, lieber Graf, hat mich &#x017F;ehr betru&#x0364;bt;<lb/>
Sie geho&#x0364;ren zu jenen Leuten, die es ganz ver-<lb/>
dienen, in der volle&#x017F;ten Bedeutung des Worts<lb/>
glu&#x0364;cklich zu &#x017F;eyn; daß Sie es aber &#x017F;o wenig<lb/>
&#x017F;ind, &#x017F;chmerzt mich innig. &#x2014; Es i&#x017F;t aber mo&#x0364;g-<lb/>
lich, und ich wu&#x0364;n&#x017F;che, daß es &#x017F;o &#x017F;eyn mo&#x0364;ge,<lb/>
daß Ihre Phanta&#x017F;ie einen großen Theil Ih-<lb/>
rer Leiden ausmacht. Sie hatten &#x017F;ich vielleicht<lb/>
einen Plan entworfen, der zu &#x017F;cho&#x0364;n war, um<lb/>
reali&#x017F;irt werden zu ko&#x0364;nnen: da Sie &#x017F;ich nun<lb/>
in Ihrer Hofnung geta&#x0364;u&#x017F;cht &#x017F;ehn, &#x017F;o er&#x017F;cheint<lb/>
Ihnen jedes Ding tru&#x0364;be und fin&#x017F;ter. &#x2014; Viel-<lb/>
leicht i&#x017F;t alles anders und be&#x017F;&#x017F;er, wenn Sie die<lb/>
Sache an&#x017F;ehn, &#x017F;o wie &#x017F;ie i&#x017F;t; der Men&#x017F;ch i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;o eneigt, &#x017F;ich allenthalben &#x017F;ein Unglu&#x0364;ck zu ver-<lb/>
gro&#x0364;ßern, daß man nur &#x017F;elten dem Berichte des<lb/>
Erza&#x0364;hlers ganz vertrauen kann. &#x2014; Ich wu&#x0364;n&#x017F;chte,<lb/>
ich wa&#x0364;re in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Lovell, <hi rendition="#aq">I.</hi> Bd. T</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289[287]/0297] 15. Mortimer an den Grafen Melun. London. Ihr Brief, lieber Graf, hat mich ſehr betruͤbt; Sie gehoͤren zu jenen Leuten, die es ganz ver- dienen, in der volleſten Bedeutung des Worts gluͤcklich zu ſeyn; daß Sie es aber ſo wenig ſind, ſchmerzt mich innig. — Es iſt aber moͤg- lich, und ich wuͤnſche, daß es ſo ſeyn moͤge, daß Ihre Phantaſie einen großen Theil Ih- rer Leiden ausmacht. Sie hatten ſich vielleicht einen Plan entworfen, der zu ſchoͤn war, um realiſirt werden zu koͤnnen: da Sie ſich nun in Ihrer Hofnung getaͤuſcht ſehn, ſo erſcheint Ihnen jedes Ding truͤbe und finſter. — Viel- leicht iſt alles anders und beſſer, wenn Sie die Sache anſehn, ſo wie ſie iſt; der Menſch iſt ſo eneigt, ſich allenthalben ſein Ungluͤck zu ver- groͤßern, daß man nur ſelten dem Berichte des Erzaͤhlers ganz vertrauen kann. — Ich wuͤnſchte, ich waͤre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch Lovell, I. Bd. T

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/297
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 289[287]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/297>, abgerufen am 24.04.2024.