Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Gemählden meiner Phantasie und trübseeligen
Ideen ist mir noch am besten, -- aber wenn ich
an einen Ort komme, wo Menschen stehn und
sich freuen! -- wo vielleicht Musik ist und ge-
tanzt wird! -- o William, es will mir die
Seele zerschneiden. Ich darf nur einen verlor-
nen Blick unter den jauchzenden Haufen fallen
lassen, und er findet in allen sogleich die nack-
ten Gerippe heraus, die Beute der Vernich-
tung. -- Ich komme mir vor wie ein verlarv-
tes Gespenst, das ungekannt und düster, still
und verschlossen durch die Menschen hingeht:
sie sind mir ein fremdes Geschlecht.

Antworte mir, wenn du mich noch nicht
ganz vergessen hast, wenn Du nicht zu jenen
Menschen gehörst, die sich wie die Schnecke
ganz in sich selber zurückziehn, unbekümmert
um das Wohl oder Weh ihres Bruders. --
Doch weiß ich nicht, daß ihr alle Egoisten seyd
und seyn müßt? --




22.

Gemaͤhlden meiner Phantaſie und truͤbſeeligen
Ideen iſt mir noch am beſten, — aber wenn ich
an einen Ort komme, wo Menſchen ſtehn und
ſich freuen! — wo vielleicht Muſik iſt und ge-
tanzt wird! — o William, es will mir die
Seele zerſchneiden. Ich darf nur einen verlor-
nen Blick unter den jauchzenden Haufen fallen
laſſen, und er findet in allen ſogleich die nack-
ten Gerippe heraus, die Beute der Vernich-
tung. — Ich komme mir vor wie ein verlarv-
tes Geſpenſt, das ungekannt und duͤſter, ſtill
und verſchloſſen durch die Menſchen hingeht:
ſie ſind mir ein fremdes Geſchlecht.

Antworte mir, wenn du mich noch nicht
ganz vergeſſen haſt, wenn Du nicht zu jenen
Menſchen gehoͤrſt, die ſich wie die Schnecke
ganz in ſich ſelber zuruͤckziehn, unbekuͤmmert
um das Wohl oder Weh ihres Bruders. —
Doch weiß ich nicht, daß ihr alle Egoiſten ſeyd
und ſeyn muͤßt? —




22.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0312" n="304[302]"/>
Gema&#x0364;hlden meiner Phanta&#x017F;ie und tru&#x0364;b&#x017F;eeligen<lb/>
Ideen i&#x017F;t mir noch am be&#x017F;ten, &#x2014; aber wenn ich<lb/>
an einen Ort komme, wo Men&#x017F;chen &#x017F;tehn und<lb/>
&#x017F;ich freuen! &#x2014; wo vielleicht Mu&#x017F;ik i&#x017F;t und ge-<lb/>
tanzt wird! &#x2014; o William, es will mir die<lb/>
Seele zer&#x017F;chneiden. Ich darf nur einen verlor-<lb/>
nen Blick unter den jauchzenden Haufen fallen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, und er findet in allen &#x017F;ogleich die nack-<lb/>
ten Gerippe heraus, die Beute der Vernich-<lb/>
tung. &#x2014; Ich komme mir vor wie ein verlarv-<lb/>
tes Ge&#x017F;pen&#x017F;t, das ungekannt und du&#x0364;&#x017F;ter, &#x017F;till<lb/>
und ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en durch die Men&#x017F;chen hingeht:<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind mir ein fremdes Ge&#x017F;chlecht.</p><lb/>
          <p>Antworte mir, wenn du mich noch nicht<lb/>
ganz verge&#x017F;&#x017F;en ha&#x017F;t, wenn Du nicht zu jenen<lb/>
Men&#x017F;chen geho&#x0364;r&#x017F;t, die &#x017F;ich wie die Schnecke<lb/>
ganz in &#x017F;ich &#x017F;elber zuru&#x0364;ckziehn, unbeku&#x0364;mmert<lb/>
um das Wohl oder Weh ihres Bruders. &#x2014;<lb/>
Doch weiß ich nicht, daß ihr alle Egoi&#x017F;ten &#x017F;eyd<lb/>
und &#x017F;eyn mu&#x0364;ßt? &#x2014;</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <fw place="bottom" type="catch">22.</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304[302]/0312] Gemaͤhlden meiner Phantaſie und truͤbſeeligen Ideen iſt mir noch am beſten, — aber wenn ich an einen Ort komme, wo Menſchen ſtehn und ſich freuen! — wo vielleicht Muſik iſt und ge- tanzt wird! — o William, es will mir die Seele zerſchneiden. Ich darf nur einen verlor- nen Blick unter den jauchzenden Haufen fallen laſſen, und er findet in allen ſogleich die nack- ten Gerippe heraus, die Beute der Vernich- tung. — Ich komme mir vor wie ein verlarv- tes Geſpenſt, das ungekannt und duͤſter, ſtill und verſchloſſen durch die Menſchen hingeht: ſie ſind mir ein fremdes Geſchlecht. Antworte mir, wenn du mich noch nicht ganz vergeſſen haſt, wenn Du nicht zu jenen Menſchen gehoͤrſt, die ſich wie die Schnecke ganz in ſich ſelber zuruͤckziehn, unbekuͤmmert um das Wohl oder Weh ihres Bruders. — Doch weiß ich nicht, daß ihr alle Egoiſten ſeyd und ſeyn muͤßt? — 22.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/312
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 304[302]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/312>, abgerufen am 20.04.2024.