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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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pietistisch. Die Mutter spottet über die Toch-
ter, die Tochter zuckt die Achseln über ihre ir-
religiöse Mutter. Beyden muß ich beytreten,
um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Wie platt sind doch alle die Komödien, in
denen eine ähnliche Situation dargestellt wird!
Eine Karrikatur treibt sich immer zwischen allen
mit schlecht erfundenen Lügen herum, um am
Ende an allen seinen Spöttern zu scheitern.
Ich finde es eben so leicht, als sicher, sich als
Mittelsperson zwischen wiedersprechende Charak-
tere einzuschieben, denn man muß sich jedem
nur unter gewissen Bedingungen nähern, die
aber so gestellt seyn müssen, daß jener glaubt,
es komme nur auf eine nähere Bekanntschaft,
auf ein vertraulicheres Gespräch an, um auch
diese Bedingungen wegzuschaffen. Die Mutter
glaubt, ich spiele nur aus Liebe zu ihrer Toch-
ter den Religiösen und um diese nachher von
ihren Irrthümern zurückzubringen; die Tochter
ist überzeugt, nur aus großer Liebe zu ihr fin-
de ich die Mutter erträglich. Man darf nur
ernsthaft vor sich selber heucheln, so ist die
Heucheley das leichteste Handwerk auf der Er-
de. Alle unsere Gespräche in der Welt, unser

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pietiſtiſch. Die Mutter ſpottet uͤber die Toch-
ter, die Tochter zuckt die Achſeln uͤber ihre ir-
religioͤſe Mutter. Beyden muß ich beytreten,
um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Wie platt ſind doch alle die Komoͤdien, in
denen eine aͤhnliche Situation dargeſtellt wird!
Eine Karrikatur treibt ſich immer zwiſchen allen
mit ſchlecht erfundenen Luͤgen herum, um am
Ende an allen ſeinen Spoͤttern zu ſcheitern.
Ich finde es eben ſo leicht, als ſicher, ſich als
Mittelsperſon zwiſchen wiederſprechende Charak-
tere einzuſchieben, denn man muß ſich jedem
nur unter gewiſſen Bedingungen naͤhern, die
aber ſo geſtellt ſeyn muͤſſen, daß jener glaubt,
es komme nur auf eine naͤhere Bekanntſchaft,
auf ein vertraulicheres Geſpraͤch an, um auch
dieſe Bedingungen wegzuſchaffen. Die Mutter
glaubt, ich ſpiele nur aus Liebe zu ihrer Toch-
ter den Religioͤſen und um dieſe nachher von
ihren Irrthuͤmern zuruͤckzubringen; die Tochter
iſt uͤberzeugt, nur aus großer Liebe zu ihr fin-
de ich die Mutter ertraͤglich. Man darf nur
ernſthaft vor ſich ſelber heucheln, ſo iſt die
Heucheley das leichteſte Handwerk auf der Er-
de. Alle unſere Geſpraͤche in der Welt, unſer

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[419/0425] pietiſtiſch. Die Mutter ſpottet uͤber die Toch- ter, die Tochter zuckt die Achſeln uͤber ihre ir- religioͤſe Mutter. Beyden muß ich beytreten, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Wie platt ſind doch alle die Komoͤdien, in denen eine aͤhnliche Situation dargeſtellt wird! Eine Karrikatur treibt ſich immer zwiſchen allen mit ſchlecht erfundenen Luͤgen herum, um am Ende an allen ſeinen Spoͤttern zu ſcheitern. Ich finde es eben ſo leicht, als ſicher, ſich als Mittelsperſon zwiſchen wiederſprechende Charak- tere einzuſchieben, denn man muß ſich jedem nur unter gewiſſen Bedingungen naͤhern, die aber ſo geſtellt ſeyn muͤſſen, daß jener glaubt, es komme nur auf eine naͤhere Bekanntſchaft, auf ein vertraulicheres Geſpraͤch an, um auch dieſe Bedingungen wegzuſchaffen. Die Mutter glaubt, ich ſpiele nur aus Liebe zu ihrer Toch- ter den Religioͤſen und um dieſe nachher von ihren Irrthuͤmern zuruͤckzubringen; die Tochter iſt uͤberzeugt, nur aus großer Liebe zu ihr fin- de ich die Mutter ertraͤglich. Man darf nur ernſthaft vor ſich ſelber heucheln, ſo iſt die Heucheley das leichteſte Handwerk auf der Er- de. Alle unſere Geſpraͤche in der Welt, unſer D d 2

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/425>, abgerufen am 12.11.2024.