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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 15te Februar.
Ich bin ein Mensch, und Leiden müssen kränken:
Doch, in der Noth an seinen Schöpfer denken,
Und ihm vertraun: dis stärket unsre Herzen
Mitten in Schmerzen.


Bitte um Geduld ist mir täglich eine Pflicht. Jedennoch,
wenn ich bedenke, daß kein Haar auf meinem Haupt ohne
Zulassung Gottes gekrümmet werden kan, so muß ich mich billig
schämen, daß ich so äusserst empfindlich bin, wenn es nicht im-
mer nach meinen Wünschen geht. Ungeduld ist mehrentheils
heimlicher Stolz und Unwille gegen Gott. Aber es ist auch viel
Unverstand dabei, weil ich nicht einsehe, oder nicht einsehen will,
daß die meisten Schicksale, die mich treffen, von mir selbst vor-
gearbeitet und gebildet wurden. Und leide ich ja einmal unver-
schuldet, (wofern es nicht Sünde ist, wenn sich ein Sünder vor
Gott auf Unschuld beruft!) so ist ja das gleichsam ein Ehrenpo-
sten, auf den mich die Vorsicht stellet, um mich künftig desto
herrlicher belohnen zu können!

Vergib also, langmüthiger Gott! wenn ich öfters bei dei-
nen mir zugemaßnen Trübsalen zu empfindlich bin, und mich zu
ungeberdig darüber anstelle. Freilich solte ich es nie vergessen,
daß meine Sünden ohne Zahl weit mehr verdient haben, als
alle Thränen sind, die ich oder die alle Menschen zusammen ge-
nommen jemals weinen können. Denn Jesus mußte ja über sie
weinen und bluten! Freilich solte ich als ein Christ überzeugt seyn:
daß dieser Zeit Leiden nicht werth sind der Herrlichkeit, die an uns,
und vieleicht auch bald an mir, offenbaret werden wird! Aber
ich armer schwacher Mensch! Jedoch, was entschuldige ich mich
schon wieder? Ich bin ja leider mehr als zu fühllos, wenn mein

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Der 15te Februar.
Ich bin ein Menſch, und Leiden muͤſſen kraͤnken:
Doch, in der Noth an ſeinen Schoͤpfer denken,
Und ihm vertraun: dis ſtaͤrket unſre Herzen
Mitten in Schmerzen.


Bitte um Geduld iſt mir taͤglich eine Pflicht. Jedennoch,
wenn ich bedenke, daß kein Haar auf meinem Haupt ohne
Zulaſſung Gottes gekruͤmmet werden kan, ſo muß ich mich billig
ſchaͤmen, daß ich ſo aͤuſſerſt empfindlich bin, wenn es nicht im-
mer nach meinen Wuͤnſchen geht. Ungeduld iſt mehrentheils
heimlicher Stolz und Unwille gegen Gott. Aber es iſt auch viel
Unverſtand dabei, weil ich nicht einſehe, oder nicht einſehen will,
daß die meiſten Schickſale, die mich treffen, von mir ſelbſt vor-
gearbeitet und gebildet wurden. Und leide ich ja einmal unver-
ſchuldet, (wofern es nicht Suͤnde iſt, wenn ſich ein Suͤnder vor
Gott auf Unſchuld beruft!) ſo iſt ja das gleichſam ein Ehrenpo-
ſten, auf den mich die Vorſicht ſtellet, um mich kuͤnftig deſto
herrlicher belohnen zu koͤnnen!

Vergib alſo, langmuͤthiger Gott! wenn ich oͤfters bei dei-
nen mir zugemaßnen Truͤbſalen zu empfindlich bin, und mich zu
ungeberdig daruͤber anſtelle. Freilich ſolte ich es nie vergeſſen,
daß meine Suͤnden ohne Zahl weit mehr verdient haben, als
alle Thraͤnen ſind, die ich oder die alle Menſchen zuſammen ge-
nommen jemals weinen koͤnnen. Denn Jeſus mußte ja uͤber ſie
weinen und bluten! Freilich ſolte ich als ein Chriſt uͤberzeugt ſeyn:
daß dieſer Zeit Leiden nicht werth ſind der Herrlichkeit, die an uns,
und vieleicht auch bald an mir, offenbaret werden wird! Aber
ich armer ſchwacher Menſch! Jedoch, was entſchuldige ich mich
ſchon wieder? Ich bin ja leider mehr als zu fuͤhllos, wenn mein

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[95[125]/0132] Der 15te Februar. Ich bin ein Menſch, und Leiden muͤſſen kraͤnken: Doch, in der Noth an ſeinen Schoͤpfer denken, Und ihm vertraun: dis ſtaͤrket unſre Herzen Mitten in Schmerzen. Bitte um Geduld iſt mir taͤglich eine Pflicht. Jedennoch, wenn ich bedenke, daß kein Haar auf meinem Haupt ohne Zulaſſung Gottes gekruͤmmet werden kan, ſo muß ich mich billig ſchaͤmen, daß ich ſo aͤuſſerſt empfindlich bin, wenn es nicht im- mer nach meinen Wuͤnſchen geht. Ungeduld iſt mehrentheils heimlicher Stolz und Unwille gegen Gott. Aber es iſt auch viel Unverſtand dabei, weil ich nicht einſehe, oder nicht einſehen will, daß die meiſten Schickſale, die mich treffen, von mir ſelbſt vor- gearbeitet und gebildet wurden. Und leide ich ja einmal unver- ſchuldet, (wofern es nicht Suͤnde iſt, wenn ſich ein Suͤnder vor Gott auf Unſchuld beruft!) ſo iſt ja das gleichſam ein Ehrenpo- ſten, auf den mich die Vorſicht ſtellet, um mich kuͤnftig deſto herrlicher belohnen zu koͤnnen! Vergib alſo, langmuͤthiger Gott! wenn ich oͤfters bei dei- nen mir zugemaßnen Truͤbſalen zu empfindlich bin, und mich zu ungeberdig daruͤber anſtelle. Freilich ſolte ich es nie vergeſſen, daß meine Suͤnden ohne Zahl weit mehr verdient haben, als alle Thraͤnen ſind, die ich oder die alle Menſchen zuſammen ge- nommen jemals weinen koͤnnen. Denn Jeſus mußte ja uͤber ſie weinen und bluten! Freilich ſolte ich als ein Chriſt uͤberzeugt ſeyn: daß dieſer Zeit Leiden nicht werth ſind der Herrlichkeit, die an uns, und vieleicht auch bald an mir, offenbaret werden wird! Aber ich armer ſchwacher Menſch! Jedoch, was entſchuldige ich mich ſchon wieder? Ich bin ja leider mehr als zu fuͤhllos, wenn mein Naͤchſter

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 95[125]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/132>, abgerufen am 12.11.2024.