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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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lichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört
(quatenus sub attributo cogitationis concipitur). Er involvirt
das Denken wie der Organismus diejenigen Zellen des
grossen Gehirns enthält, deren Erregungen als dem Denken
entsprechende physiologische Thätigkeiten vorgestellt
werden dürfen. Willkür ist ein Gebilde des Denkens
selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber
-- das Subject des Denkens -- eigentliche Wirklichkeit
zukömmt, wenn auch dieselbe von Anderen erkannt und
als solche anerkannt werden kann. Beide so verschiedene
Begriffe des Willens haben dies gemein, dass sie als Ur-
sachen
oder als Dispositionen zu Thätigkeiten gedacht
werden und also aus ihrem Dasein und ihrer Beschaffen-
heit auf ein bestimmtes Verhalten ihres Subjectes als ein
wahrscheinliches, unter gewissen, mitbedingenden Umständen
als ein nothwendiges zu schliessen erlaubt ist. Aber Wesen-
wille beruhet im Vergangenen und muss daraus erklärt
werden, wie das Werdende aus ihm; Willkür lässt sich
nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf sie be-
zogen ist. Jener enthält es im Keime; diese enthält es im
Bilde.

§ 3.

Wesenwille verhält sich also zu der Thätigkeit,
worauf er sich bezieht, wie eine Kraft zu der Arbeit, welche
sie leistet. Daher ist irgendwelche seine Gestaltung in
jeder Thätigkeit, als deren Subject ein individueller mensch-
licher Organismus verstanden wird, nothwendiger Weise mit-
gesetzt; eben als dasjenige, was in psychischem Sinne solche
Individualität ausmacht. Wesenwille ist der Bewegung
immanent. Um seine Essentia durchaus zu erfassen, so
muss von allem selbständigen Dasein äusserer Objecte ab-
gesehen und Empfindung oder Erfahrung davon nur in
ihrer subjectiven Wirklichkeit begriffen werden. So
gibt es hier nur psychische Realität und psychische
Causalität; das will sagen: nur eine Coexistenz und Suc-
cession von Daseins-, Trieb- und Thätigkeitsgefühlen, welche
durchaus, in ihrer Gesammtheit und in ihrem Zusammen-

lichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört
(quatenus sub attributo cogitationis concipitur). Er involvirt
das Denken wie der Organismus diejenigen Zellen des
grossen Gehirns enthält, deren Erregungen als dem Denken
entsprechende physiologische Thätigkeiten vorgestellt
werden dürfen. Willkür ist ein Gebilde des Denkens
selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber
— das Subject des Denkens — eigentliche Wirklichkeit
zukömmt, wenn auch dieselbe von Anderen erkannt und
als solche anerkannt werden kann. Beide so verschiedene
Begriffe des Willens haben dies gemein, dass sie als Ur-
sachen
oder als Dispositionen zu Thätigkeiten gedacht
werden und also aus ihrem Dasein und ihrer Beschaffen-
heit auf ein bestimmtes Verhalten ihres Subjectes als ein
wahrscheinliches, unter gewissen, mitbedingenden Umständen
als ein nothwendiges zu schliessen erlaubt ist. Aber Wesen-
wille beruhet im Vergangenen und muss daraus erklärt
werden, wie das Werdende aus ihm; Willkür lässt sich
nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf sie be-
zogen ist. Jener enthält es im Keime; diese enthält es im
Bilde.

§ 3.

Wesenwille verhält sich also zu der Thätigkeit,
worauf er sich bezieht, wie eine Kraft zu der Arbeit, welche
sie leistet. Daher ist irgendwelche seine Gestaltung in
jeder Thätigkeit, als deren Subject ein individueller mensch-
licher Organismus verstanden wird, nothwendiger Weise mit-
gesetzt; eben als dasjenige, was in psychischem Sinne solche
Individualität ausmacht. Wesenwille ist der Bewegung
immanent. Um seine Essentia durchaus zu erfassen, so
muss von allem selbständigen Dasein äusserer Objecte ab-
gesehen und Empfindung oder Erfahrung davon nur in
ihrer subjectiven Wirklichkeit begriffen werden. So
gibt es hier nur psychische Realität und psychische
Causalität; das will sagen: nur eine Coexistenz und Suc-
cession von Daseins-, Trieb- und Thätigkeitsgefühlen, welche
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[100/0136] lichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört (quatenus sub attributo cogitationis concipitur). Er involvirt das Denken wie der Organismus diejenigen Zellen des grossen Gehirns enthält, deren Erregungen als dem Denken entsprechende physiologische Thätigkeiten vorgestellt werden dürfen. Willkür ist ein Gebilde des Denkens selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber — das Subject des Denkens — eigentliche Wirklichkeit zukömmt, wenn auch dieselbe von Anderen erkannt und als solche anerkannt werden kann. Beide so verschiedene Begriffe des Willens haben dies gemein, dass sie als Ur- sachen oder als Dispositionen zu Thätigkeiten gedacht werden und also aus ihrem Dasein und ihrer Beschaffen- heit auf ein bestimmtes Verhalten ihres Subjectes als ein wahrscheinliches, unter gewissen, mitbedingenden Umständen als ein nothwendiges zu schliessen erlaubt ist. Aber Wesen- wille beruhet im Vergangenen und muss daraus erklärt werden, wie das Werdende aus ihm; Willkür lässt sich nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf sie be- zogen ist. Jener enthält es im Keime; diese enthält es im Bilde. § 3. Wesenwille verhält sich also zu der Thätigkeit, worauf er sich bezieht, wie eine Kraft zu der Arbeit, welche sie leistet. Daher ist irgendwelche seine Gestaltung in jeder Thätigkeit, als deren Subject ein individueller mensch- licher Organismus verstanden wird, nothwendiger Weise mit- gesetzt; eben als dasjenige, was in psychischem Sinne solche Individualität ausmacht. Wesenwille ist der Bewegung immanent. Um seine Essentia durchaus zu erfassen, so muss von allem selbständigen Dasein äusserer Objecte ab- gesehen und Empfindung oder Erfahrung davon nur in ihrer subjectiven Wirklichkeit begriffen werden. So gibt es hier nur psychische Realität und psychische Causalität; das will sagen: nur eine Coexistenz und Suc- cession von Daseins-, Trieb- und Thätigkeitsgefühlen, welche durchaus, in ihrer Gesammtheit und in ihrem Zusammen-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/136>, abgerufen am 20.04.2024.