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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Literarischer Charakter des Zeitalters.
Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergessenheit zu über-
geben. Keiner der ausländischen Kriegsschriftsteller, welche in diesen Jahren
die Geschichte der jüngsten Feldzüge darstellten, ward den Verdiensten des
Blücherschen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Ansehen der preu-
ßischen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erste der Welt
gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance
keineswegs wiederhergestellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions-
krieges sich nur schwer übersehen läßt, so beruhigte sich die öffentliche Mei-
nung Europas gern bei dem einfachen Schlusse: als die Preußen bei Jena
allein fochten, wurden sie geschlagen, nur fremde Hilfe hat sie gerettet.
Daher kümmerte sich auch Niemand im Auslande um die politischen In-
stitutionen, denen Preußen seine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach
wie vor der am Wenigsten bekannte und am Gründlichsten verkannte
Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt
in Frankfurt zusammentrat, erregte durch sein unfruchtbares Gezänk den
Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unseres
Volkes stand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung fest:
die deutsche Nation sei durch den weisen Rathschluß der Natur zu ewiger
Ohnmacht und Zwietracht bestimmt. Um so bereitwilliger erkannte man
nunmehr die geistige Größe dieses machtlosen Volkes an; allein ihren
Künstlern und Gelehrten verdankten die Deutschen, daß sie von den alten
Culturvölkern des Westens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur-
den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den-
ker; nur sollten sie auch bei der Theilung der Erde zufrieden sein mit
dem Poetenloose, das ihnen Schiller geschildert, und sich begnügen, be-
rauscht vom göttlichen Lichte das Irdische zu verlieren.

Zum ersten male seit den Zeiten Martin Luthers machten Deutsch-
lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und sie fanden willi-
gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutschland
allein hatte die Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts schon gänz-
lich überwunden. Der Sensualismus der Aufklärung war längst ver-
drängt durch eine idealistische Philosophie, die Herrschaft der Verstandes
durch ein tiefes religiöses Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude
an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben-
digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunst durch eine
freie, naturwüchsige, aus den Tiefen des Herzens aufschäumende Poesie,
das Uebergewicht der exakten Wissenschaften durch die neue historisch-ästhe-
tische Bildung. Diese Welt von neuen Gedanken war in Deutschland
durch die Arbeit dreier Generationen, der classischen und der romanti-
schen Dichter, langsam herangereift, sie hatte unter den Nachbarvölkern
bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich siegreich
über alle Lande.

Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen

Literariſcher Charakter des Zeitalters.
Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergeſſenheit zu über-
geben. Keiner der ausländiſchen Kriegsſchriftſteller, welche in dieſen Jahren
die Geſchichte der jüngſten Feldzüge darſtellten, ward den Verdienſten des
Blücherſchen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Anſehen der preu-
ßiſchen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erſte der Welt
gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance
keineswegs wiederhergeſtellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions-
krieges ſich nur ſchwer überſehen läßt, ſo beruhigte ſich die öffentliche Mei-
nung Europas gern bei dem einfachen Schluſſe: als die Preußen bei Jena
allein fochten, wurden ſie geſchlagen, nur fremde Hilfe hat ſie gerettet.
Daher kümmerte ſich auch Niemand im Auslande um die politiſchen In-
ſtitutionen, denen Preußen ſeine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach
wie vor der am Wenigſten bekannte und am Gründlichſten verkannte
Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt
in Frankfurt zuſammentrat, erregte durch ſein unfruchtbares Gezänk den
Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unſeres
Volkes ſtand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung feſt:
die deutſche Nation ſei durch den weiſen Rathſchluß der Natur zu ewiger
Ohnmacht und Zwietracht beſtimmt. Um ſo bereitwilliger erkannte man
nunmehr die geiſtige Größe dieſes machtloſen Volkes an; allein ihren
Künſtlern und Gelehrten verdankten die Deutſchen, daß ſie von den alten
Culturvölkern des Weſtens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur-
den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den-
ker; nur ſollten ſie auch bei der Theilung der Erde zufrieden ſein mit
dem Poetenlooſe, das ihnen Schiller geſchildert, und ſich begnügen, be-
rauſcht vom göttlichen Lichte das Irdiſche zu verlieren.

Zum erſten male ſeit den Zeiten Martin Luthers machten Deutſch-
lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und ſie fanden willi-
gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutſchland
allein hatte die Weltanſchauung des achtzehnten Jahrhunderts ſchon gänz-
lich überwunden. Der Senſualismus der Aufklärung war längſt ver-
drängt durch eine idealiſtiſche Philoſophie, die Herrſchaft der Verſtandes
durch ein tiefes religiöſes Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude
an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben-
digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunſt durch eine
freie, naturwüchſige, aus den Tiefen des Herzens aufſchäumende Poeſie,
das Uebergewicht der exakten Wiſſenſchaften durch die neue hiſtoriſch-äſthe-
tiſche Bildung. Dieſe Welt von neuen Gedanken war in Deutſchland
durch die Arbeit dreier Generationen, der claſſiſchen und der romanti-
ſchen Dichter, langſam herangereift, ſie hatte unter den Nachbarvölkern
bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich ſiegreich
über alle Lande.

Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen

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[7/0021] Literariſcher Charakter des Zeitalters. Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergeſſenheit zu über- geben. Keiner der ausländiſchen Kriegsſchriftſteller, welche in dieſen Jahren die Geſchichte der jüngſten Feldzüge darſtellten, ward den Verdienſten des Blücherſchen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Anſehen der preu- ßiſchen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erſte der Welt gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance keineswegs wiederhergeſtellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions- krieges ſich nur ſchwer überſehen läßt, ſo beruhigte ſich die öffentliche Mei- nung Europas gern bei dem einfachen Schluſſe: als die Preußen bei Jena allein fochten, wurden ſie geſchlagen, nur fremde Hilfe hat ſie gerettet. Daher kümmerte ſich auch Niemand im Auslande um die politiſchen In- ſtitutionen, denen Preußen ſeine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach wie vor der am Wenigſten bekannte und am Gründlichſten verkannte Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt in Frankfurt zuſammentrat, erregte durch ſein unfruchtbares Gezänk den Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unſeres Volkes ſtand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung feſt: die deutſche Nation ſei durch den weiſen Rathſchluß der Natur zu ewiger Ohnmacht und Zwietracht beſtimmt. Um ſo bereitwilliger erkannte man nunmehr die geiſtige Größe dieſes machtloſen Volkes an; allein ihren Künſtlern und Gelehrten verdankten die Deutſchen, daß ſie von den alten Culturvölkern des Weſtens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur- den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den- ker; nur ſollten ſie auch bei der Theilung der Erde zufrieden ſein mit dem Poetenlooſe, das ihnen Schiller geſchildert, und ſich begnügen, be- rauſcht vom göttlichen Lichte das Irdiſche zu verlieren. Zum erſten male ſeit den Zeiten Martin Luthers machten Deutſch- lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und ſie fanden willi- gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutſchland allein hatte die Weltanſchauung des achtzehnten Jahrhunderts ſchon gänz- lich überwunden. Der Senſualismus der Aufklärung war längſt ver- drängt durch eine idealiſtiſche Philoſophie, die Herrſchaft der Verſtandes durch ein tiefes religiöſes Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben- digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunſt durch eine freie, naturwüchſige, aus den Tiefen des Herzens aufſchäumende Poeſie, das Uebergewicht der exakten Wiſſenſchaften durch die neue hiſtoriſch-äſthe- tiſche Bildung. Dieſe Welt von neuen Gedanken war in Deutſchland durch die Arbeit dreier Generationen, der claſſiſchen und der romanti- ſchen Dichter, langſam herangereift, ſie hatte unter den Nachbarvölkern bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich ſiegreich über alle Lande. Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/21>, abgerufen am 28.03.2024.