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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Weinstube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen
Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen
mit Rosenkränzen im Haar beim Griechenweine zusammenlagen und in
hellenischer Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland
der Phäaken redeten. Der gesellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und
Ueberschwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geistiger Ge-
nüsse, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen
Gesellschaft fast allein die Musik übrig geblieben ist. Die Frauen, die
in jenen Jahren jung gewesen, erschienen noch im hohen Alter dem nach-
wachsenden nüchterneren Geschlechte wie verklärt durch einen poetischen
Zauber, sie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüstlichen Liebenswür-
digkeit, ihrem feinsinnigen Verständniß für alles Menschliche.

Freilich verriethen sich auch schon die Spuren des beginnenden Ver-
falls. Die Literatur war längst ins Kraut geschossen; sie bot sich den
Lesern an, während einst die classischen Dichter immer nur herausgesagt
hatten, was der Nation schon halb bewußt in der Seele lag. Eine Masse
trivialer Unterhaltungsschriften suchte die Neugier und die Sinnlichkeit
der Lesewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da sich in keinem
Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will-
kürliche, gewaltsame Experimente, so daß Goethe diese Jahre als die Epoche
der forcirten Talente bezeichnete. Die modische Vermischung von Poesie
und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus sich anmaßlich
vorzudrängen. Wer in den Kreisen der Romantik verkehrte, die Schlag-
wörter der Schule nachsprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas
oder eines Epos grübelte, der hielt sich für einen Dichter und vergaß
das Bewußtsein seines Unvermögens über dem beliebten Troste: "das
Dichten und Trachten" mache den Künstler, und Rafael wäre, auch ohne
Hände geboren, der größte aller Maler gewesen. Das frevelhaft miß-
brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber-
muth. Bei dem geistreichen Spielen mit neuen Ideen und überraschenden
Gesichtspunkten ging der schlichte Menschenverstand leicht zu Grunde. Der
Glaube an das schrankenlose Recht der souveränen Persönlichkeit, der all-
gemeine Drang, nur ja den anderen Menschen nicht zu gleichen, ver-
führte die Einen zu sittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbstbespiegelung.
Man belauschte mit nervöser Empfindsamkeit jeden Athemzug der eigenen
schönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der
Rahel Varnhagen spielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen
Dämons, der dem Genie die finstern und die lichten Stunden schenkt.

Die Literatur beherrschte die Gedanken der Nation noch so vollständig,
daß sogar die großen Gegensätze des politischen und des kirchlichen Lebens
oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen
von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her-
mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, so fühlte er sich

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Weinſtube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen
Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen
mit Roſenkränzen im Haar beim Griechenweine zuſammenlagen und in
helleniſcher Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland
der Phäaken redeten. Der geſellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und
Ueberſchwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geiſtiger Ge-
nüſſe, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen
Geſellſchaft faſt allein die Muſik übrig geblieben iſt. Die Frauen, die
in jenen Jahren jung geweſen, erſchienen noch im hohen Alter dem nach-
wachſenden nüchterneren Geſchlechte wie verklärt durch einen poetiſchen
Zauber, ſie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüſtlichen Liebenswür-
digkeit, ihrem feinſinnigen Verſtändniß für alles Menſchliche.

Freilich verriethen ſich auch ſchon die Spuren des beginnenden Ver-
falls. Die Literatur war längſt ins Kraut geſchoſſen; ſie bot ſich den
Leſern an, während einſt die claſſiſchen Dichter immer nur herausgeſagt
hatten, was der Nation ſchon halb bewußt in der Seele lag. Eine Maſſe
trivialer Unterhaltungsſchriften ſuchte die Neugier und die Sinnlichkeit
der Leſewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da ſich in keinem
Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will-
kürliche, gewaltſame Experimente, ſo daß Goethe dieſe Jahre als die Epoche
der forcirten Talente bezeichnete. Die modiſche Vermiſchung von Poeſie
und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus ſich anmaßlich
vorzudrängen. Wer in den Kreiſen der Romantik verkehrte, die Schlag-
wörter der Schule nachſprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas
oder eines Epos grübelte, der hielt ſich für einen Dichter und vergaß
das Bewußtſein ſeines Unvermögens über dem beliebten Troſte: „das
Dichten und Trachten“ mache den Künſtler, und Rafael wäre, auch ohne
Hände geboren, der größte aller Maler geweſen. Das frevelhaft miß-
brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber-
muth. Bei dem geiſtreichen Spielen mit neuen Ideen und überraſchenden
Geſichtspunkten ging der ſchlichte Menſchenverſtand leicht zu Grunde. Der
Glaube an das ſchrankenloſe Recht der ſouveränen Perſönlichkeit, der all-
gemeine Drang, nur ja den anderen Menſchen nicht zu gleichen, ver-
führte die Einen zu ſittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbſtbeſpiegelung.
Man belauſchte mit nervöſer Empfindſamkeit jeden Athemzug der eigenen
ſchönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der
Rahel Varnhagen ſpielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen
Dämons, der dem Genie die finſtern und die lichten Stunden ſchenkt.

Die Literatur beherrſchte die Gedanken der Nation noch ſo vollſtändig,
daß ſogar die großen Gegenſätze des politiſchen und des kirchlichen Lebens
oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen
von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her-
mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, ſo fühlte er ſich

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[14/0028] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Weinſtube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen mit Roſenkränzen im Haar beim Griechenweine zuſammenlagen und in helleniſcher Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland der Phäaken redeten. Der geſellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und Ueberſchwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geiſtiger Ge- nüſſe, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen Geſellſchaft faſt allein die Muſik übrig geblieben iſt. Die Frauen, die in jenen Jahren jung geweſen, erſchienen noch im hohen Alter dem nach- wachſenden nüchterneren Geſchlechte wie verklärt durch einen poetiſchen Zauber, ſie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüſtlichen Liebenswür- digkeit, ihrem feinſinnigen Verſtändniß für alles Menſchliche. Freilich verriethen ſich auch ſchon die Spuren des beginnenden Ver- falls. Die Literatur war längſt ins Kraut geſchoſſen; ſie bot ſich den Leſern an, während einſt die claſſiſchen Dichter immer nur herausgeſagt hatten, was der Nation ſchon halb bewußt in der Seele lag. Eine Maſſe trivialer Unterhaltungsſchriften ſuchte die Neugier und die Sinnlichkeit der Leſewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da ſich in keinem Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will- kürliche, gewaltſame Experimente, ſo daß Goethe dieſe Jahre als die Epoche der forcirten Talente bezeichnete. Die modiſche Vermiſchung von Poeſie und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus ſich anmaßlich vorzudrängen. Wer in den Kreiſen der Romantik verkehrte, die Schlag- wörter der Schule nachſprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas oder eines Epos grübelte, der hielt ſich für einen Dichter und vergaß das Bewußtſein ſeines Unvermögens über dem beliebten Troſte: „das Dichten und Trachten“ mache den Künſtler, und Rafael wäre, auch ohne Hände geboren, der größte aller Maler geweſen. Das frevelhaft miß- brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber- muth. Bei dem geiſtreichen Spielen mit neuen Ideen und überraſchenden Geſichtspunkten ging der ſchlichte Menſchenverſtand leicht zu Grunde. Der Glaube an das ſchrankenloſe Recht der ſouveränen Perſönlichkeit, der all- gemeine Drang, nur ja den anderen Menſchen nicht zu gleichen, ver- führte die Einen zu ſittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbſtbeſpiegelung. Man belauſchte mit nervöſer Empfindſamkeit jeden Athemzug der eigenen ſchönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der Rahel Varnhagen ſpielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen Dämons, der dem Genie die finſtern und die lichten Stunden ſchenkt. Die Literatur beherrſchte die Gedanken der Nation noch ſo vollſtändig, daß ſogar die großen Gegenſätze des politiſchen und des kirchlichen Lebens oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her- mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, ſo fühlte er ſich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/28>, abgerufen am 28.03.2024.