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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Erstarrung der norddeutschen Kleinstaaten.
ihrem alten Gebiete, ihren angestammten Fürstenhäusern und ihrem pro-
testantischen Sonderleben auch die Verfassungsformen des alten Jahr-
hunderts: Kurhessen seinen höfischen Absolutismus, Sachsen, Hannover,
Mecklenburg ihre ständische Vielherrschaft, die Hansestädte ihre bürgerliche
Oligarchie. In Sachsen und Mecklenburg war die alte Ordnung inmitten
der Stürme einer ungeheuern Zeit unwandelbar geblieben, in Hessen, in
den welfischen Gebieten und den freien Städten wurde sie nach der kurzen
Episode einer verhaßten Zwischenherrschaft fast unverändert wiederherge-
stellt. Aengstlich sperrten sich alle diese Territorien gegen jede Neuerung
ab. Auf Hannover und Holstein lastete zudem noch die Fremdherrschaft,
die selbst wo sie willig ertragen wird, überall lähmend wirkt, und den
Hansestädten erschwerten die weltbürgerlichen Interessen ihres Freihandels
die Theilnahme an der nationalen Politik. In Oesterreich und in der
trägen Masse dieser kleinen norddeutschen Gebiete lagen die hemmenden
Kräfte unseres Staatslebens, in Preußen und den süddeutschen Territorien
die Kräfte der Bewegung, obschon die liberale Durchschnittsmeinung jener
Tage alle Schuld des deutschen Elends kurzerhand den beiden Großmächten
aufzubürden liebte. Erst durch die Nachwirkungen der Julirevolution sind
diese Gegensätze etwas gemildert, einige Kleinstaaten Norddeutschlands zum
Repräsentativsystem hinübergedrängt worden.

In dem wunderlichen Wirrsal der deutschen Bundespolitik konnte
aber die Unvernunft zuweilen Segen bringen, da die Vernunft unmöglich
war. Die verknöcherten Verfassungen des Nordens bewahrten Deutsch-
land in den zwanziger Jahren vor der Gefahr der Trias, des Sonder-
bundes der Mittelstaaten, denn zwischen der bairisch-württembergischen
Bureaukratie und dem altständischen Regimente Sachsens oder Hannovers
war jede Verständigung undenkbar. Sie bewahrten aber auch die preu-
ßische Politik vor dem verderblichen Plane der Mainlinie, der in Berlin
jederzeit mächtige Fürsprecher fand; denn die adlichen Landtage des Nor-
dens fürchteten in Preußens starker Krone den geborenen Feind ihrer
ständischen Libertät und vermieden mißtrauisch jede Annäherung an den
norddeutschen Großstaat, grade weil sie wußten, daß sie seinem natürlichen
Machtgebiete angehörten. Die Regierungen des Südens fühlten sich nicht
so unmittelbar bedroht, sie vermochten die Leistungen der preußischen Ver-
waltung unbefangener zu würdigen, und da die Oberländer vor den nach-
tragenden Norddeutschen die glückliche Gabe voraus haben, alten Groll
gründlich zu vergessen, so konnte es geschehen, daß die Kernlande des
Rheinbundes sich zu dem Berliner Hofe bald freundlicher stellten als seine
nächsten Nachbarn und eine Vereinbarung zwischen Preußen und den süd-
deutschen Staaten den Grund legte für die wirthschaftliche Einheit der
Nation. --

Von keinem seiner kleinen Nachbarn durfte Preußen zur Zeit weniger
Vertrauen erwarten als von dem Königreich Sachsen, dem alten unglück-

Erſtarrung der norddeutſchen Kleinſtaaten.
ihrem alten Gebiete, ihren angeſtammten Fürſtenhäuſern und ihrem pro-
teſtantiſchen Sonderleben auch die Verfaſſungsformen des alten Jahr-
hunderts: Kurheſſen ſeinen höfiſchen Abſolutismus, Sachſen, Hannover,
Mecklenburg ihre ſtändiſche Vielherrſchaft, die Hanſeſtädte ihre bürgerliche
Oligarchie. In Sachſen und Mecklenburg war die alte Ordnung inmitten
der Stürme einer ungeheuern Zeit unwandelbar geblieben, in Heſſen, in
den welfiſchen Gebieten und den freien Städten wurde ſie nach der kurzen
Epiſode einer verhaßten Zwiſchenherrſchaft faſt unverändert wiederherge-
ſtellt. Aengſtlich ſperrten ſich alle dieſe Territorien gegen jede Neuerung
ab. Auf Hannover und Holſtein laſtete zudem noch die Fremdherrſchaft,
die ſelbſt wo ſie willig ertragen wird, überall lähmend wirkt, und den
Hanſeſtädten erſchwerten die weltbürgerlichen Intereſſen ihres Freihandels
die Theilnahme an der nationalen Politik. In Oeſterreich und in der
trägen Maſſe dieſer kleinen norddeutſchen Gebiete lagen die hemmenden
Kräfte unſeres Staatslebens, in Preußen und den ſüddeutſchen Territorien
die Kräfte der Bewegung, obſchon die liberale Durchſchnittsmeinung jener
Tage alle Schuld des deutſchen Elends kurzerhand den beiden Großmächten
aufzubürden liebte. Erſt durch die Nachwirkungen der Julirevolution ſind
dieſe Gegenſätze etwas gemildert, einige Kleinſtaaten Norddeutſchlands zum
Repräſentativſyſtem hinübergedrängt worden.

In dem wunderlichen Wirrſal der deutſchen Bundespolitik konnte
aber die Unvernunft zuweilen Segen bringen, da die Vernunft unmöglich
war. Die verknöcherten Verfaſſungen des Nordens bewahrten Deutſch-
land in den zwanziger Jahren vor der Gefahr der Trias, des Sonder-
bundes der Mittelſtaaten, denn zwiſchen der bairiſch-württembergiſchen
Bureaukratie und dem altſtändiſchen Regimente Sachſens oder Hannovers
war jede Verſtändigung undenkbar. Sie bewahrten aber auch die preu-
ßiſche Politik vor dem verderblichen Plane der Mainlinie, der in Berlin
jederzeit mächtige Fürſprecher fand; denn die adlichen Landtage des Nor-
dens fürchteten in Preußens ſtarker Krone den geborenen Feind ihrer
ſtändiſchen Libertät und vermieden mißtrauiſch jede Annäherung an den
norddeutſchen Großſtaat, grade weil ſie wußten, daß ſie ſeinem natürlichen
Machtgebiete angehörten. Die Regierungen des Südens fühlten ſich nicht
ſo unmittelbar bedroht, ſie vermochten die Leiſtungen der preußiſchen Ver-
waltung unbefangener zu würdigen, und da die Oberländer vor den nach-
tragenden Norddeutſchen die glückliche Gabe voraus haben, alten Groll
gründlich zu vergeſſen, ſo konnte es geſchehen, daß die Kernlande des
Rheinbundes ſich zu dem Berliner Hofe bald freundlicher ſtellten als ſeine
nächſten Nachbarn und eine Vereinbarung zwiſchen Preußen und den ſüd-
deutſchen Staaten den Grund legte für die wirthſchaftliche Einheit der
Nation. —

Von keinem ſeiner kleinen Nachbarn durfte Preußen zur Zeit weniger
Vertrauen erwarten als von dem Königreich Sachſen, dem alten unglück-

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[487/0503] Erſtarrung der norddeutſchen Kleinſtaaten. ihrem alten Gebiete, ihren angeſtammten Fürſtenhäuſern und ihrem pro- teſtantiſchen Sonderleben auch die Verfaſſungsformen des alten Jahr- hunderts: Kurheſſen ſeinen höfiſchen Abſolutismus, Sachſen, Hannover, Mecklenburg ihre ſtändiſche Vielherrſchaft, die Hanſeſtädte ihre bürgerliche Oligarchie. In Sachſen und Mecklenburg war die alte Ordnung inmitten der Stürme einer ungeheuern Zeit unwandelbar geblieben, in Heſſen, in den welfiſchen Gebieten und den freien Städten wurde ſie nach der kurzen Epiſode einer verhaßten Zwiſchenherrſchaft faſt unverändert wiederherge- ſtellt. Aengſtlich ſperrten ſich alle dieſe Territorien gegen jede Neuerung ab. Auf Hannover und Holſtein laſtete zudem noch die Fremdherrſchaft, die ſelbſt wo ſie willig ertragen wird, überall lähmend wirkt, und den Hanſeſtädten erſchwerten die weltbürgerlichen Intereſſen ihres Freihandels die Theilnahme an der nationalen Politik. In Oeſterreich und in der trägen Maſſe dieſer kleinen norddeutſchen Gebiete lagen die hemmenden Kräfte unſeres Staatslebens, in Preußen und den ſüddeutſchen Territorien die Kräfte der Bewegung, obſchon die liberale Durchſchnittsmeinung jener Tage alle Schuld des deutſchen Elends kurzerhand den beiden Großmächten aufzubürden liebte. Erſt durch die Nachwirkungen der Julirevolution ſind dieſe Gegenſätze etwas gemildert, einige Kleinſtaaten Norddeutſchlands zum Repräſentativſyſtem hinübergedrängt worden. In dem wunderlichen Wirrſal der deutſchen Bundespolitik konnte aber die Unvernunft zuweilen Segen bringen, da die Vernunft unmöglich war. Die verknöcherten Verfaſſungen des Nordens bewahrten Deutſch- land in den zwanziger Jahren vor der Gefahr der Trias, des Sonder- bundes der Mittelſtaaten, denn zwiſchen der bairiſch-württembergiſchen Bureaukratie und dem altſtändiſchen Regimente Sachſens oder Hannovers war jede Verſtändigung undenkbar. Sie bewahrten aber auch die preu- ßiſche Politik vor dem verderblichen Plane der Mainlinie, der in Berlin jederzeit mächtige Fürſprecher fand; denn die adlichen Landtage des Nor- dens fürchteten in Preußens ſtarker Krone den geborenen Feind ihrer ſtändiſchen Libertät und vermieden mißtrauiſch jede Annäherung an den norddeutſchen Großſtaat, grade weil ſie wußten, daß ſie ſeinem natürlichen Machtgebiete angehörten. Die Regierungen des Südens fühlten ſich nicht ſo unmittelbar bedroht, ſie vermochten die Leiſtungen der preußiſchen Ver- waltung unbefangener zu würdigen, und da die Oberländer vor den nach- tragenden Norddeutſchen die glückliche Gabe voraus haben, alten Groll gründlich zu vergeſſen, ſo konnte es geſchehen, daß die Kernlande des Rheinbundes ſich zu dem Berliner Hofe bald freundlicher ſtellten als ſeine nächſten Nachbarn und eine Vereinbarung zwiſchen Preußen und den ſüd- deutſchen Staaten den Grund legte für die wirthſchaftliche Einheit der Nation. — Von keinem ſeiner kleinen Nachbarn durfte Preußen zur Zeit weniger Vertrauen erwarten als von dem Königreich Sachſen, dem alten unglück-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/503>, abgerufen am 25.04.2024.