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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Nebenius und der deutsche Zollverein.
politischen Wandlung zu gelten habe. Alle Politik ist Kunst, Ausführung, Einbilden
der Idee in den spröden Stoff. So gewiß Raphael die Schule von Athen geschaffen hat
und nicht Papst Julius oder jene römischen Gelehrten, die dem Künstler vielleicht die Idee
zu seinem Werke dargeboten haben, ebenso gewiß ist der Schöpfer einer großen politischen
Reform nicht der Denker, der ihre Möglichkeit zuerst ahnte, sondern der Staatsmann,
der dem neuen Gedanken die lebendige Gestalt zu geben, den Widerstand feindlicher Mächte
zu besiegen wußte. In der Politik bedeutet die Ausführung sogar noch mehr als in der
Kunst. Denn fast niemals sieht sich der Staatsmann in der Lage einen festen Plan
unbeirrt zu verfolgen; jede Idee ist ihm nur ein Entwurf, den er immer bereit sein
muß mit einem anderen zu vertauschen. Es ist der Ruhm des großen politischen Denkers
die Zeichen der Zeit als ein Seher zu deuten, die Geister vorzubereiten für die Erkennt-
niß des Nothwendigen. Gelingt ihm dies, so dauert sein Name im Gedächtniß der
Menschen; so lange die Welt reden wird von der Einheitsbewegung der Italiener, bleibt
auch Gioberti's Rinnovamento unvergessen. Nur soll man nicht in urtheilsloser Be-
wunderung den Denker hinabziehen aus dem idealen Gebiete, das er beherrscht, nicht
seinen Ahnungen die unmittelbare Wirksamkeit der That andichten.

Dieser Doctrinarismus, der den ungeheuren Abstand von Gedanken und That nicht
zu würdigen weiß, hat das Seine gethan, den preußischen Staatsmännern, welche Deutsch-
lands wirthschaftliche Einheit gründeten, die verdiente Ehre vorzuenthalten, und parti-
cularistischer Kleinsinn arbeitete ihm getreulich in die Hände. Alle Welt weiß, der deutsche
Zollverein kam dadurch zu Stande, daß das preußische Gesetz vom 26. Mai 1818 mit
einigen Aenderungen von anderen deutschen Staaten angenommen wurde; die vieljährigen
Verhandlungen, welche diese Einigung bewirkten, wurden allesammt zu Berlin geführt.
Und Angesichts dieser offenkundigen Thatsachen stimmte die deutsche Staatsgelehrsamkeit
ein lautes Hohngelächter an, als einst der Minister v. Mühler die unwiderlegliche Be-
hauptung aussprach, der Zollverein sei der eigenste Gedanke König Friedrich Wilhelm's III.
Nicht dem königlichen Gesetzgeber, der das grundlegende Gesetz deutscher Handelspolitik
erlassen hat, nicht seinen unermüdlichen Staatsmännern, die durch Jahrzehnte daran ar-
beiteten, dies Gesetz durchzubilden und über das gesammte Deutschland auszubreiten --
nicht diesen Männern durfte der Name der Stifter des Zollvereins gebühren. Um nur
Preußen nicht das Lob zu gönnen, griff man lieber zu den willkürlichsten Vermuthungen.
Bald sprach man gläubig die naive Prahlerei Ludwig's I. von Baiern nach: "Der Zoll-
verein! Ich habe ihn geschaffen." Bald sollte Wilhelm von Württemberg, bald irgend
ein Theoretiker oder ein Staatsmann der Mittelstaaten das Hauptverdienst haben an
einem Werke, das doch, wie Jedermann weiß, in der preußischen Hauptstadt begonnen
und vollendet wurde. In der reichen Literatur über den Zollverein fanden sich während
langer Jahre nur zwei größere Schriften, welche dem Verdienste Preußens völlig gerecht
wurden: Ranke's bekannter Aufsatz in der historisch-politischen Zeitschrift und Aegidi's
Programm über die Vorzeit des Zollvereins. Erst in jüngster Zeit beginnt die über-
zeugende Beweisführung der letzteren Schrift Anklang zu finden in weiteren Kreisen.

Leider sind aber die alten Legenden neuerdings wiederholt worden in einem vortreff-
lichen Werke, das sich im Uebrigen gerade durch die Bekämpfung des falschen Doctrina-
rismus auszeichnet. In Roscher's Geschichte der Nationalökonomie wird Nebenius wieder
als "der eigentliche Erfinder des Zollvereins" gepriesen, weil seine Denkschrift von 1819
einige Gedanken aussprach, welche mit der späteren Verfassung des Zollvereins eine ge-
wisse Aehnlichkeit haben. So ungern ich mit meinem verehrten Lehrer in Widerspruch
trete, so dürfen wir Historiker es doch nicht schweigend hinnehmen, wenn ein vielgelesenes
einflußreiches Buch das Capitel über die Gründung des Zollvereins mit dem Satze schließt:
"Was für die Befreiungskriege der Hannoveraner Scharnhorst, der Rheinländer Stein,
der Mecklenburger Blücher, der Sachse Gneisenau, das bedeutet für den Zollverein der
Badenser Nebenius." Will man den Badener neben jene Helden stellen, deren Verdienst
doch sicherlich nicht blos in dem Aussprechen einiger guten Gedanken bestand, so muß man

Nebenius und der deutſche Zollverein.
politiſchen Wandlung zu gelten habe. Alle Politik iſt Kunſt, Ausführung, Einbilden
der Idee in den ſpröden Stoff. So gewiß Raphael die Schule von Athen geſchaffen hat
und nicht Papſt Julius oder jene römiſchen Gelehrten, die dem Künſtler vielleicht die Idee
zu ſeinem Werke dargeboten haben, ebenſo gewiß iſt der Schöpfer einer großen politiſchen
Reform nicht der Denker, der ihre Möglichkeit zuerſt ahnte, ſondern der Staatsmann,
der dem neuen Gedanken die lebendige Geſtalt zu geben, den Widerſtand feindlicher Mächte
zu beſiegen wußte. In der Politik bedeutet die Ausführung ſogar noch mehr als in der
Kunſt. Denn faſt niemals ſieht ſich der Staatsmann in der Lage einen feſten Plan
unbeirrt zu verfolgen; jede Idee iſt ihm nur ein Entwurf, den er immer bereit ſein
muß mit einem anderen zu vertauſchen. Es iſt der Ruhm des großen politiſchen Denkers
die Zeichen der Zeit als ein Seher zu deuten, die Geiſter vorzubereiten für die Erkennt-
niß des Nothwendigen. Gelingt ihm dies, ſo dauert ſein Name im Gedächtniß der
Menſchen; ſo lange die Welt reden wird von der Einheitsbewegung der Italiener, bleibt
auch Gioberti’s Rinnovamento unvergeſſen. Nur ſoll man nicht in urtheilsloſer Be-
wunderung den Denker hinabziehen aus dem idealen Gebiete, das er beherrſcht, nicht
ſeinen Ahnungen die unmittelbare Wirkſamkeit der That andichten.

Dieſer Doctrinarismus, der den ungeheuren Abſtand von Gedanken und That nicht
zu würdigen weiß, hat das Seine gethan, den preußiſchen Staatsmännern, welche Deutſch-
lands wirthſchaftliche Einheit gründeten, die verdiente Ehre vorzuenthalten, und parti-
culariſtiſcher Kleinſinn arbeitete ihm getreulich in die Hände. Alle Welt weiß, der deutſche
Zollverein kam dadurch zu Stande, daß das preußiſche Geſetz vom 26. Mai 1818 mit
einigen Aenderungen von anderen deutſchen Staaten angenommen wurde; die vieljährigen
Verhandlungen, welche dieſe Einigung bewirkten, wurden alleſammt zu Berlin geführt.
Und Angeſichts dieſer offenkundigen Thatſachen ſtimmte die deutſche Staatsgelehrſamkeit
ein lautes Hohngelächter an, als einſt der Miniſter v. Mühler die unwiderlegliche Be-
hauptung ausſprach, der Zollverein ſei der eigenſte Gedanke König Friedrich Wilhelm’s III.
Nicht dem königlichen Geſetzgeber, der das grundlegende Geſetz deutſcher Handelspolitik
erlaſſen hat, nicht ſeinen unermüdlichen Staatsmännern, die durch Jahrzehnte daran ar-
beiteten, dies Geſetz durchzubilden und über das geſammte Deutſchland auszubreiten —
nicht dieſen Männern durfte der Name der Stifter des Zollvereins gebühren. Um nur
Preußen nicht das Lob zu gönnen, griff man lieber zu den willkürlichſten Vermuthungen.
Bald ſprach man gläubig die naive Prahlerei Ludwig’s I. von Baiern nach: „Der Zoll-
verein! Ich habe ihn geſchaffen.“ Bald ſollte Wilhelm von Württemberg, bald irgend
ein Theoretiker oder ein Staatsmann der Mittelſtaaten das Hauptverdienſt haben an
einem Werke, das doch, wie Jedermann weiß, in der preußiſchen Hauptſtadt begonnen
und vollendet wurde. In der reichen Literatur über den Zollverein fanden ſich während
langer Jahre nur zwei größere Schriften, welche dem Verdienſte Preußens völlig gerecht
wurden: Ranke’s bekannter Aufſatz in der hiſtoriſch-politiſchen Zeitſchrift und Aegidi’s
Programm über die Vorzeit des Zollvereins. Erſt in jüngſter Zeit beginnt die über-
zeugende Beweisführung der letzteren Schrift Anklang zu finden in weiteren Kreiſen.

Leider ſind aber die alten Legenden neuerdings wiederholt worden in einem vortreff-
lichen Werke, das ſich im Uebrigen gerade durch die Bekämpfung des falſchen Doctrina-
rismus auszeichnet. In Roſcher’s Geſchichte der Nationalökonomie wird Nebenius wieder
als „der eigentliche Erfinder des Zollvereins“ geprieſen, weil ſeine Denkſchrift von 1819
einige Gedanken ausſprach, welche mit der ſpäteren Verfaſſung des Zollvereins eine ge-
wiſſe Aehnlichkeit haben. So ungern ich mit meinem verehrten Lehrer in Widerſpruch
trete, ſo dürfen wir Hiſtoriker es doch nicht ſchweigend hinnehmen, wenn ein vielgeleſenes
einflußreiches Buch das Capitel über die Gründung des Zollvereins mit dem Satze ſchließt:
„Was für die Befreiungskriege der Hannoveraner Scharnhorſt, der Rheinländer Stein,
der Mecklenburger Blücher, der Sachſe Gneiſenau, das bedeutet für den Zollverein der
Badenſer Nebenius.“ Will man den Badener neben jene Helden ſtellen, deren Verdienſt
doch ſicherlich nicht blos in dem Ausſprechen einiger guten Gedanken beſtand, ſo muß man

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[774/0790] Nebenius und der deutſche Zollverein. politiſchen Wandlung zu gelten habe. Alle Politik iſt Kunſt, Ausführung, Einbilden der Idee in den ſpröden Stoff. So gewiß Raphael die Schule von Athen geſchaffen hat und nicht Papſt Julius oder jene römiſchen Gelehrten, die dem Künſtler vielleicht die Idee zu ſeinem Werke dargeboten haben, ebenſo gewiß iſt der Schöpfer einer großen politiſchen Reform nicht der Denker, der ihre Möglichkeit zuerſt ahnte, ſondern der Staatsmann, der dem neuen Gedanken die lebendige Geſtalt zu geben, den Widerſtand feindlicher Mächte zu beſiegen wußte. In der Politik bedeutet die Ausführung ſogar noch mehr als in der Kunſt. Denn faſt niemals ſieht ſich der Staatsmann in der Lage einen feſten Plan unbeirrt zu verfolgen; jede Idee iſt ihm nur ein Entwurf, den er immer bereit ſein muß mit einem anderen zu vertauſchen. Es iſt der Ruhm des großen politiſchen Denkers die Zeichen der Zeit als ein Seher zu deuten, die Geiſter vorzubereiten für die Erkennt- niß des Nothwendigen. Gelingt ihm dies, ſo dauert ſein Name im Gedächtniß der Menſchen; ſo lange die Welt reden wird von der Einheitsbewegung der Italiener, bleibt auch Gioberti’s Rinnovamento unvergeſſen. Nur ſoll man nicht in urtheilsloſer Be- wunderung den Denker hinabziehen aus dem idealen Gebiete, das er beherrſcht, nicht ſeinen Ahnungen die unmittelbare Wirkſamkeit der That andichten. Dieſer Doctrinarismus, der den ungeheuren Abſtand von Gedanken und That nicht zu würdigen weiß, hat das Seine gethan, den preußiſchen Staatsmännern, welche Deutſch- lands wirthſchaftliche Einheit gründeten, die verdiente Ehre vorzuenthalten, und parti- culariſtiſcher Kleinſinn arbeitete ihm getreulich in die Hände. Alle Welt weiß, der deutſche Zollverein kam dadurch zu Stande, daß das preußiſche Geſetz vom 26. Mai 1818 mit einigen Aenderungen von anderen deutſchen Staaten angenommen wurde; die vieljährigen Verhandlungen, welche dieſe Einigung bewirkten, wurden alleſammt zu Berlin geführt. Und Angeſichts dieſer offenkundigen Thatſachen ſtimmte die deutſche Staatsgelehrſamkeit ein lautes Hohngelächter an, als einſt der Miniſter v. Mühler die unwiderlegliche Be- hauptung ausſprach, der Zollverein ſei der eigenſte Gedanke König Friedrich Wilhelm’s III. Nicht dem königlichen Geſetzgeber, der das grundlegende Geſetz deutſcher Handelspolitik erlaſſen hat, nicht ſeinen unermüdlichen Staatsmännern, die durch Jahrzehnte daran ar- beiteten, dies Geſetz durchzubilden und über das geſammte Deutſchland auszubreiten — nicht dieſen Männern durfte der Name der Stifter des Zollvereins gebühren. Um nur Preußen nicht das Lob zu gönnen, griff man lieber zu den willkürlichſten Vermuthungen. Bald ſprach man gläubig die naive Prahlerei Ludwig’s I. von Baiern nach: „Der Zoll- verein! Ich habe ihn geſchaffen.“ Bald ſollte Wilhelm von Württemberg, bald irgend ein Theoretiker oder ein Staatsmann der Mittelſtaaten das Hauptverdienſt haben an einem Werke, das doch, wie Jedermann weiß, in der preußiſchen Hauptſtadt begonnen und vollendet wurde. In der reichen Literatur über den Zollverein fanden ſich während langer Jahre nur zwei größere Schriften, welche dem Verdienſte Preußens völlig gerecht wurden: Ranke’s bekannter Aufſatz in der hiſtoriſch-politiſchen Zeitſchrift und Aegidi’s Programm über die Vorzeit des Zollvereins. Erſt in jüngſter Zeit beginnt die über- zeugende Beweisführung der letzteren Schrift Anklang zu finden in weiteren Kreiſen. Leider ſind aber die alten Legenden neuerdings wiederholt worden in einem vortreff- lichen Werke, das ſich im Uebrigen gerade durch die Bekämpfung des falſchen Doctrina- rismus auszeichnet. In Roſcher’s Geſchichte der Nationalökonomie wird Nebenius wieder als „der eigentliche Erfinder des Zollvereins“ geprieſen, weil ſeine Denkſchrift von 1819 einige Gedanken ausſprach, welche mit der ſpäteren Verfaſſung des Zollvereins eine ge- wiſſe Aehnlichkeit haben. So ungern ich mit meinem verehrten Lehrer in Widerſpruch trete, ſo dürfen wir Hiſtoriker es doch nicht ſchweigend hinnehmen, wenn ein vielgeleſenes einflußreiches Buch das Capitel über die Gründung des Zollvereins mit dem Satze ſchließt: „Was für die Befreiungskriege der Hannoveraner Scharnhorſt, der Rheinländer Stein, der Mecklenburger Blücher, der Sachſe Gneiſenau, das bedeutet für den Zollverein der Badenſer Nebenius.“ Will man den Badener neben jene Helden ſtellen, deren Verdienſt doch ſicherlich nicht blos in dem Ausſprechen einiger guten Gedanken beſtand, ſo muß man

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 774. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/790>, abgerufen am 19.04.2024.