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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf sollten sie dann nochmals
durch einen Straßenkampf den Anstoß geben zu einer europäischen Be-
wegung, aber auch nur den Anstoß von außen her: Frankreichs Gedanken
beherrschten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutschland
und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der
Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die
nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte
Welt sah in diesem Volke nicht mehr den Lichtbringer, sondern den
Friedensstörer der Staatengesellschaft, die republikanische Schilderhebung
der Pariser im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo.
Ebenso langsam und unaufhaltsam war zwei Jahrhunderte zuvor die
spanische Weltmacht von ihrer Höhe herabgesunken. Hier wie dort wirkten
die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht
schon längst vermorscht waren, hier wie dort hielt sich die Nation noch
für die erste der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht
von Sedan, dort durch den Pyrenäischen Frieden die Verschiebung der
Machtverhältnisse offenbar wurde.

Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte scharfblickende
Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die "große
Woche" der Pariser veränderte die ganze Lage der Welt; sie erschütterte
das politische System der legitimen Großmächte weit stärker als zehn
Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; sie beschleunigte überall die
längst schon begonnene Zerstörung der alten Ständeherrschaft. Der Unter-
gang des Adels und die Herrschaft der Bourgeoisie in Frankreich entflammten
das erstarkte Selbstgefühl der bürgerlichen Klassen zu neuen Hoffnungen
und Ansprüchen. Unterdessen begann das zweite große Zeitalter der
Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlstand und Verkehr nahmen
einen unerhörten Aufschwung. Die neuen Weltmächte der Großindustrie,
der Börse, des Judenthums traten ihre Herrschaft an, und zugleich regte
sich schon der Klassengegensatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der
Restauration stand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantischen Träumen
und ihrer andächtigen geistigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongressen
und höfischen Festen dem aristokratischen alten Jahrhundert noch sehr
nahe. Erst seit der Juli-Revolution, vollständig erst seit dem Jahre 1848
zeigt die Gesittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge.
Ein neues Geschlecht kommt herauf, demokratisch in Sitten und Gedanken,
formlos und kurz angebunden, unersättlich in seinen Ansprüchen, tief
überzeugt von seiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit
seiner Gegner, unternehmend und arbeitsam, kühn und erfinderisch im
Kampfe mit den Elementen, durch die Weite seines Gesichtskreises und
die Vielseitigkeit seiner Interessen allen früheren Zeiten überlegen, aber
auch hastig, unstät, ohne Sammlung des Geistes, ohne Sicherheit der
Weltanschauung. Alles Leben der Völker drängt sich auf den Markt

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf ſollten ſie dann nochmals
durch einen Straßenkampf den Anſtoß geben zu einer europäiſchen Be-
wegung, aber auch nur den Anſtoß von außen her: Frankreichs Gedanken
beherrſchten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutſchland
und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der
Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die
nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte
Welt ſah in dieſem Volke nicht mehr den Lichtbringer, ſondern den
Friedensſtörer der Staatengeſellſchaft, die republikaniſche Schilderhebung
der Pariſer im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo.
Ebenſo langſam und unaufhaltſam war zwei Jahrhunderte zuvor die
ſpaniſche Weltmacht von ihrer Höhe herabgeſunken. Hier wie dort wirkten
die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht
ſchon längſt vermorſcht waren, hier wie dort hielt ſich die Nation noch
für die erſte der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht
von Sedan, dort durch den Pyrenäiſchen Frieden die Verſchiebung der
Machtverhältniſſe offenbar wurde.

Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte ſcharfblickende
Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die „große
Woche“ der Pariſer veränderte die ganze Lage der Welt; ſie erſchütterte
das politiſche Syſtem der legitimen Großmächte weit ſtärker als zehn
Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; ſie beſchleunigte überall die
längſt ſchon begonnene Zerſtörung der alten Ständeherrſchaft. Der Unter-
gang des Adels und die Herrſchaft der Bourgeoiſie in Frankreich entflammten
das erſtarkte Selbſtgefühl der bürgerlichen Klaſſen zu neuen Hoffnungen
und Anſprüchen. Unterdeſſen begann das zweite große Zeitalter der
Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlſtand und Verkehr nahmen
einen unerhörten Aufſchwung. Die neuen Weltmächte der Großinduſtrie,
der Börſe, des Judenthums traten ihre Herrſchaft an, und zugleich regte
ſich ſchon der Klaſſengegenſatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der
Reſtauration ſtand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantiſchen Träumen
und ihrer andächtigen geiſtigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongreſſen
und höfiſchen Feſten dem ariſtokratiſchen alten Jahrhundert noch ſehr
nahe. Erſt ſeit der Juli-Revolution, vollſtändig erſt ſeit dem Jahre 1848
zeigt die Geſittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge.
Ein neues Geſchlecht kommt herauf, demokratiſch in Sitten und Gedanken,
formlos und kurz angebunden, unerſättlich in ſeinen Anſprüchen, tief
überzeugt von ſeiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit
ſeiner Gegner, unternehmend und arbeitſam, kühn und erfinderiſch im
Kampfe mit den Elementen, durch die Weite ſeines Geſichtskreiſes und
die Vielſeitigkeit ſeiner Intereſſen allen früheren Zeiten überlegen, aber
auch haſtig, unſtät, ohne Sammlung des Geiſtes, ohne Sicherheit der
Weltanſchauung. Alles Leben der Völker drängt ſich auf den Markt

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[4/0018] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf ſollten ſie dann nochmals durch einen Straßenkampf den Anſtoß geben zu einer europäiſchen Be- wegung, aber auch nur den Anſtoß von außen her: Frankreichs Gedanken beherrſchten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutſchland und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte Welt ſah in dieſem Volke nicht mehr den Lichtbringer, ſondern den Friedensſtörer der Staatengeſellſchaft, die republikaniſche Schilderhebung der Pariſer im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo. Ebenſo langſam und unaufhaltſam war zwei Jahrhunderte zuvor die ſpaniſche Weltmacht von ihrer Höhe herabgeſunken. Hier wie dort wirkten die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht ſchon längſt vermorſcht waren, hier wie dort hielt ſich die Nation noch für die erſte der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht von Sedan, dort durch den Pyrenäiſchen Frieden die Verſchiebung der Machtverhältniſſe offenbar wurde. Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte ſcharfblickende Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die „große Woche“ der Pariſer veränderte die ganze Lage der Welt; ſie erſchütterte das politiſche Syſtem der legitimen Großmächte weit ſtärker als zehn Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; ſie beſchleunigte überall die längſt ſchon begonnene Zerſtörung der alten Ständeherrſchaft. Der Unter- gang des Adels und die Herrſchaft der Bourgeoiſie in Frankreich entflammten das erſtarkte Selbſtgefühl der bürgerlichen Klaſſen zu neuen Hoffnungen und Anſprüchen. Unterdeſſen begann das zweite große Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlſtand und Verkehr nahmen einen unerhörten Aufſchwung. Die neuen Weltmächte der Großinduſtrie, der Börſe, des Judenthums traten ihre Herrſchaft an, und zugleich regte ſich ſchon der Klaſſengegenſatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der Reſtauration ſtand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantiſchen Träumen und ihrer andächtigen geiſtigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongreſſen und höfiſchen Feſten dem ariſtokratiſchen alten Jahrhundert noch ſehr nahe. Erſt ſeit der Juli-Revolution, vollſtändig erſt ſeit dem Jahre 1848 zeigt die Geſittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge. Ein neues Geſchlecht kommt herauf, demokratiſch in Sitten und Gedanken, formlos und kurz angebunden, unerſättlich in ſeinen Anſprüchen, tief überzeugt von ſeiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit ſeiner Gegner, unternehmend und arbeitſam, kühn und erfinderiſch im Kampfe mit den Elementen, durch die Weite ſeines Geſichtskreiſes und die Vielſeitigkeit ſeiner Intereſſen allen früheren Zeiten überlegen, aber auch haſtig, unſtät, ohne Sammlung des Geiſtes, ohne Sicherheit der Weltanſchauung. Alles Leben der Völker drängt ſich auf den Markt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/18>, abgerufen am 29.03.2024.