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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

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entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen
bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle
der Gewissheit vertreten muss, oder stillet ihnen
jenes Bedürfniss. Und würden sie es auch am En-
de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä-
tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus
Erfahrungswissenschaften verbannen, heisst den
Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren.
Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf
wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben.
Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines
möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das
heisst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die
Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre-
gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln
von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden
das, was sie sind, nur dadurch, dass man das
Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm
dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das
Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.

Von dieser Seite sind also Vermuthungen und
Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son-
dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey
noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem
erscheint die obige Frage in einem ganz andern
Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage
der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft
man uns zu, Thatsachen in jener mit blossen Wahr-

schein-

entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen
bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle
der Gewiſsheit vertreten muſs, oder stillet ihnen
jenes Bedürfniſs. Und würden sie es auch am En-
de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä-
tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus
Erfahrungswissenschaften verbannen, heiſst den
Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren.
Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf
wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben.
Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines
möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das
heiſst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die
Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre-
gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln
von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden
das, was sie sind, nur dadurch, daſs man das
Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm
dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das
Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.

Von dieser Seite sind also Vermuthungen und
Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son-
dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey
noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem
erscheint die obige Frage in einem ganz andern
Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage
der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft
man uns zu, Thatsachen in jener mit bloſsen Wahr-

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[120/0140] entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle der Gewiſsheit vertreten muſs, oder stillet ihnen jenes Bedürfniſs. Und würden sie es auch am En- de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä- tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus Erfahrungswissenschaften verbannen, heiſst den Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren. Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben. Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das heiſst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre- gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden das, was sie sind, nur dadurch, daſs man das Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte. Von dieser Seite sind also Vermuthungen und Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son- dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem erscheint die obige Frage in einem ganz andern Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft man uns zu, Thatsachen in jener mit bloſsen Wahr- schein-

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Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/140>, abgerufen am 28.03.2024.